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Sinkende Flüchtlingszahlen in Baden-Württemberg: Erfolgreich ausgeblendet

Für Menschen auf der Flucht hat das Coronavirus noch viel drastischere Auswirkungen, oft fehlt es an einfachen Hygieneartikeln.

Es kommen immer weniger Geflüchtete neu in Baden-Württemberg und der Region Stuttgart an. Das Problem wurde aber nicht gelöst, sondern nur verlagert, meint Julia Bosch. Ein Leitartikel.

 Beim ersten Blick auf die aktuellen Flüchtlingszahlen im Land sieht es so aus, als habe sich die weltweite humanitäre Situation in den vergangenen Jahren erheblich verbessert. Denn so wenige Geflüchtete wie im ersten Halbjahr nach Baden-Württemberg gekommen sind, waren es seit 2015 nie. Auch die Zahl der illegalen Grenzübertritte geht stark nach unten.


Flüchtlingspolitik hat sich drastisch verändert

Flüchtlingsheime im Land werden nach und nach aufgelöst. Sporthallen dienen nicht mehr als Notunterkünfte. Behörden und Ehrenamtliche können sich wieder verstärkt anderen Aufgaben widmen. Das Wort „Flüchtlingskrise“ fällt in Deutschland nur noch, wenn man an die sogenannte Grenzöffnung erinnert, die sich im September zum fünften Mal jährt.


Doch es wäre ein Trugschluss, diese sinkenden Zahlen so zu interpretieren, als würden weniger Menschen vor Krieg, Gewalt und Verfolgung fliehen. Vielmehr bekommen wir von den meisten dieser Menschen nichts mehr mit. Das hat zum einen mit den Corona-Maßnahmen zu tun – also geschlossenen Grenzen und mehr Kontrollen. Zum anderen sind restriktive Gesetze und die europäische Abschottung erhebliche Gründe für sinkende Zahlen. Die Flüchtlingspolitik hat sich seit 2015 drastisch verändert. Die Festung Europa, wie sie nicht nur rechtspopulistische Politiker forderten, sie ist Wirklichkeit geworden – und durch Corona hat diese Festung noch höhere Mauern erhalten.


Knapp 80 Millionen Menschen auf der Flucht

Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR waren Ende 2019 so viele Menschen wie noch nie auf der Flucht: 79,5 Millionen. Seit dem Jahr 2010 hat sich diese Zahl beinahe verdoppelt. 26 Millionen dieser Menschen flohen laut UNHCR vor Konflikten, Verfolgung oder schweren Menschenrechtsverletzungen aus ihrer Heimat, und: 40 Prozent der Vertriebenen weltweit sind Kinder unter 18 Jahren.


Die sinkenden Zahlen in Baden-Württemberg sind also kein Beleg dafür, dass sich die Weltlage verbessert hat, sondern vielmehr dafür, dass etliche Geflüchtete in hoffnungslos überfüllten Lagern gestrandet sind und von dort nicht wegkommen; in Griechenland, der Türkei, in Libyen, Nigeria oder Uganda. Europas Schandfleck ist das Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos: Dort hausten im Frühjahr knapp 20 000 Menschen – ursprünglich ausgelegt ist das Camp laut UNHCR für 2800. Weil die Menschen auf engem Raum eingepfercht sind und ihnen eine Perspektive fehlt, eskaliert die Situation immer wieder: Im ersten Halbjahr wurden in Moria mindestens sieben Migranten bei Auseinandersetzungen erstochen. Und auch jene, die gegen die Flüchtlinge wettern, treten aggressiver auf: Erst am Donnerstag haben Demonstranten eine Kinderklinik der Organisation Ärzte ohne Grenzen nahe des Lagers Moria attackiert.


Wir machen Homeoffice, in Moria fehlt es an Wasser

Die Corona-Pandemie hat die Lage für Menschen auf der Flucht noch verschärft, auch im Elendslager Moria. Es mangelt an Nahrung und einfachen Hygieneartikeln. Wird jemand krank, kann er weder isoliert noch versorgt werden. Zum regelmäßigen Händewaschen fehlt es an Wasser. Die Ausgangssperre seit März lässt die Menschen verzweifeln. Vergessen, abgeschnitten von der Außenwelt – so fühlen sich viele Flüchtlinge.


Die sogenannte Flüchtlingskrise – sie gibt es immer noch. Dass sie bei uns in Deutschland, Baden-Württemberg und der Region Stuttgart aktuell nicht so sichtbar ist wie vor vier oder fünf Jahren, sollte uns eher alarmieren denn beruhigen. Dass die Zahlen bei uns gesunken sind, sollte keinen Anlass zum Wegschauen geben. Wir haben das Problem nicht gelöst, wir sind es nur losgeworden. Ausbaden müssen es die Menschen, die in Moria und anderen Camps nichts anderes tun können, als auf eine bessere Zukunft zu hoffen.

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