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Bedrohung durch Russland
Diese Folgen hätte der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden
Von Josephin Hartwig , Patrick Diekmann
Aktualisiert am 17.05.2022 Lesedauer: 6 Min.
Schweden und Finnland wollen Mitglieder der Nato werden. Anders als ihre nordischen Partnerstaaten Dänemark, Norwegen und Island gehören die beiden Länder dem westlichen Militärbündnis bislang nicht an. Historisch standen die beiden skandinavischen Länder stets zur ihrer sicherheitspolitischen Neutralität, nicht zuletzt, um ihre Beziehungen zu Russland nicht zu verschlechtern. Aber damit soll nun Schluss sein, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird auch die Sicherheitsarchitektur in Europa massiv verändern.
Der russische Präsident Wladimir Putin wollte eine Nato-Erweiterung stets verhindern, aber seine Kriegspolitik hat die politischen Führungen in Schweden und Finnland zum Umdenken bewogen. Entsprechend deutlich verurteilt der Kreml die mögliche Nato-Nordweiterung: "Dies ist ein weiterer schwerer Fehler mit weitreichenden Folgen", sagte Vizeaußenminister Sergej Rjabkow am Montag laut russischen Nachrichtenagenturen. Russlands Reaktion werde "von den praktischen Konsequenzen des Beitritts" der beiden Länder zur Nato abhängen. "Für uns ist klar, dass die Sicherheit Schwedens und Finnlands durch diese Entscheidung nicht gestärkt wird", betonte der russische Vizeaußenminister.
Haben Finnland und Schweden schon einen offiziellen Antrag für einen Nato-Beitritt gestellt?
Noch nicht, die Regierungen haben das Vorhaben allerdings schon offiziell angekündigt. Schweden will seinen Antrag noch zu Beginn dieser Woche stellen, nachdem es im Parlament am Montag eine breite Zustimmung zu dem Vorhaben gab. Mehr dazu lesen Sie hier.
Finnlands Beitrittsgesuch wurde dagegen schon am Sonntag offiziell angekündigt. Es muss aber ebenfalls noch vom Parlament gebilligt werden, eine Zustimmung gilt als Formsache.
Wer ist die Nato und wofür ist sie zuständig?
Die Nato (Kurzform für Nordatlantische Vertragsorganisation) ist das wohl wichtigste sicherheitspolitische Bündnis der Welt und besteht seit etwa 60 Jahren. Gegründet wurde sie am 4. April 1949. 30 Mitgliedsstaaten gehören inzwischen dazu. Im Falle eines Angriffs in einem der Mitgliedsstaaten haben sich die anderen dazu verpflichtet, gegenseitig Beistand zu leisten. Dieser sogenannte Bündnisfall müsste von allen Nato-Partnern beschlossen werden.
Was ist Voraussetzung für den Nato-Beitritt?
Zuallererst muss ein Staat Interesse an einem Beitritt in die Nato bekunden. Dann finden Gespräche statt und die Länder stellen offiziell einen Antrag auf Beitritt in das Bündnis. Erst dann beginnen konkrete Gespräche, in denen auch evaluiert wird, ob alle Voraussetzungen erfüllt werden. Denn mit der Aufnahme sind auch bestimmte Bedingungen verbunden, wie etwa, dass das Land ein demokratischer Staat sein muss, Minderheiten gleich behandelt, friedvolle Lösungen in Konflikten suchen will sowie die Fähigkeit und den Willen hat, sich militärisch in der Nato einzusetzen.
Die Aufnahme in die Allianz wäre für Finnland und Schweden nach jahrzehntelanger Bündnisneutralität eine historische Zäsur. Für ihren Beitritt ist auch ein einstimmiges Votum der Nato sowie die Ratifizierung der Bündniserweiterung durch die Parlamente aller 30 bisheriger Mitgliedstaaten nötig.
Welche Länder gehören zur Nato?
Wie positionieren sich die Mitgliedsstaaten zu einer Nato-Erweiterung?
Die Türkei knüpft ihr Ja zu einem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens an Bedingungen und bedroht damit die Geschlossenheit des Bündnisses im Auftreten gegenüber Russland. Unter den Nato-Partnern sorgten die indirekten Vetodrohungen der Türkei deswegen für erheblichen Unmut. Deutschland und die meisten anderen Alliierten begrüßen es, dass Finnland und Schweden in Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine mit Vorbereitungen für einen Nato-Beitritt begonnen haben. Ihre Aufnahme würde die Nato als Verteidigungs-, aber auch als Wertebündnis stärken, betonte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Sonntag.
Ähnlich äußerte sich auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der Norweger sage mit Blick auf Finnland und Schweden: "Wenn sie sich für einen Antrag entscheiden, wäre das ein historischer Moment." US-Außenminister Antony Blinken zeigte sich zuversichtlich: "Ich habe fast ausnahmslos sehr starke Unterstützung für den Beitritt Finnlands zur Nato gehört, wenn (das Land) sich dafür entscheidet", sagte er. Es gebe einen "starken Konsens" in puncto Finnland und Schweden.
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn erwartete ebenfalls eine Einigung. "Politik ist manchmal auch Theatralik und manchmal ist es wie im Basar, dass man verhandeln muss bis zum Schluss", sagte er. Am Ende werde es aber gehen.
Griechenland unterstützt die Pläne Schwedens und Finnlands bezüglich einer Nato-Mitgliedschaft. "Griechenland hat ausgezeichnete Beziehungen mit diesen beiden Ländern, die auch Mitglieder der Europäischen Union sind", sagte der griechische Außenminister Nikos Dendias. Griechenland habe eine klare Haltung in der Angelegenheit. Man sei bereit, die beiden Länder in der Nato-Familie willkommen zu heißen. Die beiden Staaten hätten viel zu bieten.
Norwegen befürwortet ebenfalls eine Mitgliedschaft der beiden Länder. Das Land stehe zu hundert Prozent hinter Finnland und Schweden, sollten die beiden Länder eine Mitgliedschaft für das Verteidigungsbündnis beantragen, sagt Norwegens Außenministerin Anniken Huitfeld nach ihrer Ankunft beim informellen Nato-Außenministertreffen in Berlin. Ein solcher Schritt würde die nordische Kooperation stärken. Dies sei ein historischer Moment. Der niederländische Außenminister Wopke Hoekstra äußert sich ähnlich. Es sei wichtig, dass alle Nato-Mitglieder hierbei Einigkeit demonstrierten, sagt Hoekstra.
Die Slowakei ist davon überzeugt, dass alle Nato-Staaten die Pläne Schwedens und Finnlands für eine Mitgliedschaft in der Allianz unterstützen werden. Das sagt der slowakische Außenminister Ivan Korcok beim Nato-Sondertreffen in Berlin. Die Slowakei sei absolut bereit dazu, sich die Anträge anzuschauen und eine Mitgliedschaft dieser beiden Länder zu unterstützen. Korcok spricht sich zudem für weitere Militärhilfe für die Ukraine aus. Auf die Frage, wie lange die Nato-Verbündeten die Ukraine unterstützen könnten, sagt er: "Bis sie gewinnt." Russland habe den Krieg politisch verloren.
Welche Folgen hätte ein Nato-Beitritt der skandinavischen Länder?
Die Nato-Mitgliedsstaaten sind sich im Prinzip einig darüber, dass Finnland und Schweden aufgrund ihrer eigenen militärischen Fähigkeiten ein Gewinn für die Nato wären. Außerdem sind die beiden skandinavischen Länder schon in der Europäischen Union, in der es auch eine Beistandspflicht bei einem Angriff auf ein Mitgliedsland gibt. Deshalb rechnet die Nato damit, dass der Beitritt von Schweden und Finnland schnell vollzogen werden kann.
Wenn Schweden und Finnland ihre militärische Neutralität aufgeben, verändert das dennoch die Sicherheitsarchitektur in Europa. Die Nato hätte damit in Finnland eine weitere 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland. Der Kreml, der das westliche Verteidigungsbündnis bereits jetzt als Rivalen und Bedrohung wahrnimmt, wird auf die Norderweiterung reagieren. So hat Moskau angekündigt, dass man Atomstreitkräfte in dem Fall nach Nordwesten verlegen würde. Durch die neue Grenze im Norden muss sich die Nato natürlich auf neue Verteidigungsszenarien vorbereiten, aber das Bündnis geht auch davon aus, dass diese Grenze schon jetzt sehr gut durch die finnische Armee gesichert ist.
Für die Nato wäre die Norderweiterung strategisch von Vorteil. Denn dadurch wären die baltischen Staaten vor einem möglichen russischen Angriff besser geschützt. Aktuell ist die Suwalki-Lücke eine strategische Bedrohung für das westliche Bündnis und Russland könnte mit einem Angriff aus Belarus die baltischen Staaten vom Rest des Nato-Territoriums abschneiden. Vor allem Finnland könnte nun für mehr Sicherheit in den baltischen Staaten sorgen.
Wie reagiert Russland?
Für Wladimir Putin ist diese Erweiterung ein besonderes Ärgernis, weil er durch die Nato russische Sicherheitsinteressen bedroht sieht und der Einfluss Russlands auf die europäischen Staaten immer geringer wird. Es wird vor allem politische Konsequenzen geben, schon jetzt hat Russland die Zusammenarbeit mit Finnland in Teilen der Energieversorgung beendet. Aber letztlich war es Putin, der mit seinem Ukraine-Krieg die guten russisch-finnischen Beziehungen massiv verschlechtert hat.
Auch darüber hinaus steckt Russland in einem Dilemma. Der Ukraine-Krieg hat nicht nur der eigenen Wirtschaft geschadet, er ist auch teuer und bindet sehr viele militärische Kapazitäten der russischen Armee. Der Kreml hat wahrscheinlich immer noch keinen Plan für ein mögliches Kriegsende, und sollte der Konflikt irgendwann vorbei sein, müsste die russische Armee erst einmal wieder hochgerüstet werden. Es ist deshalb sehr unwahrscheinlich, dass Putin militärisch auf die Norderweiterung der Nato reagiert und das Territorium des westlichen Militärbündnisses angreift.
Dafür hat Russland weder Geld noch Ausrüstung, und in dem Konfliktgürtel von der Ukraine über den Kaukasus bis nach Syrien sind zu viele russische Kräfte gebunden. Der Kreml wird die Norderweiterung der Nato verurteilen und ihre Propaganda wird sie zum Beweis dazu verklären, dass der Westen russische Sicherheitsinteressen ignoriert - ohne natürlich dabei zu erwähnen, dass Finnland und Schweden aus Angst vor russischer Aggression in die Nato streben. Außerdem wird Putin - wie er es in der Vergangenheit schon häufig getan hat - versuchen, mit Geheimdiensten und Desinformation die neuen Nato-Mitglieder zu destabilisieren. Doch diese Pläne gingen selten wirklich auf, sondern der russische Präsident hat mit seiner aggressiven Verteidigung der russischen Einflusssphären viele osteuropäische Staaten in die Arme der Nato getrieben.
Könnte ein Beitritt verhindert werden?
Blockiert werden könnte die Aufnahme in die Militärallianz theoretisch noch durch das Veto eines der Mitgliedstaaten, die einstimmig über Aufnahmen entscheiden müssen. Natürlich steht hier die Türkei im Fokus. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist aufgrund der wirtschaftlichen Lage seines Landes innenpolitisch angeschlagen und muss sich im kommenden Jahr einer Präsidentschaftswahl stellen. Deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass er sich außenpolitische Konflikte sucht, um von den eigenen Problemen abzulenken.
Der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden wird also wahrscheinlich nicht ohne Zugeständnisse für die Türkei kommen. Für Erdoğan ist das die Chance, sich in seinem Land für einen außenpolitischen Erfolg feiern zu lassen.
Wie geht es nun weiter?
Nach Angaben aus Regierungskreisen könnte Deutschland den Ratifizierungsprozess sogar noch vor der parlamentarischen Sommerpause abschließen, wenn die Türkei das Aufnahmeverfahren nicht blockiert.
Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer könnten auf dem nächsten Gipfel in Madrid Ende Juni 2022 über den Eintritt entscheiden.