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Museen, Macht und eine Matte

Im Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig gibt es eine geflochtene Matte: ein Geschenk an Wilhelm II., den deutschen Kaiser. Die Matte war von drei Generationen über hundert Jahre von den Untertanen des Königs von Samoa in mühevoller Handarbeit hergestellt worden - um von einem Monarchen an einen anderen verschenkt zu werden. „Wenn man so etwas übergibt, heißt das: Ich bin der König hier und du bist mein gleichwertiger Partner", erzählt Birgit Scheps-Bretschneider, die Leiterin der Abteilung für Provenienzforschung und Restitution des Museums. Übergeben wurde die Matte aber keineswegs an Kaiser Wilhelm höchstselbst - der habe sie nie gesehen, sagt Scheps-Bretschneider -, sondern um 1910 an den Gouverneur der deutschen Kolonie. Über Umwege gelangte sie dann nach Leipzig. Das macht sie zu einem Objekt mit kolonialer Geschichte, manche würden sogar sagen: zu Raubgut. Denn natürlich wäre die Matte ohne die gewaltvolle deutsche Kolonialherrschaft im Pazifikraum nie in die Bestände des Museums gelangt. Die Matte zurückzugeben aber wäre ein Affront an das Königreich Samoa, das durch das Geschenk versuchte, Augenhöhe herzustellen.

Das zeigt das Problem, vor dem Museen stehen. Einerseits ist man sich bewusst, dass die eigene Sammlung durchzogen ist von unrechtmäßig erlangten Stücken. Andererseits ist nicht alles, was aus der ohnehin schwer definierbaren „Kolonialzeit" stammt, gleichzeitig objektgewordenes Unrecht.

Dietrich Raue, Kurator des Ägyptischen Museums der Universität Leipzig, sagt sogar, mit kolonialem Unrecht habe sein Museum überhaupt nichts zu tun. „Geklaute Sachen wollen wir hier nicht", betont er. Sobald man etwas entdeckt habe, das unrechtmäßig in den Besitz des Museums gelangt ist, sei es wieder zurückgegeben worden. Eine Kolonialgeschichte hat die Sammlung aber trotzdem, immerhin wurde der Großteil der Objekte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus Ägypten geholt, das damals de facto unter der Verwaltung der britischen und französischen Kolonialmächte stand. Dass Raue kein koloniales Unrecht sieht, hat mit einer Besonderheit in der Geschichte der Ägyptologie zu tun. Er steht in der Mitte des großen Ausstellungsraums des Museums und streckt die Arme aus: „Das ist zu größten Teilen Fundteilung." Fundteilung bedeutet, dass für jeden Ausgrabungsgegenstand, der das Land verlässt, ein gleich- oder höherwertiger in Ägypten bleiben musste. Erläuternd zeigt Raue ein Gesichtsfragment des Königs Chephren, dem Teil des Kinns und Kopfes fehlt. „Die besser erhaltenen Statuen sind in Kairo", sagt er. Alles im Ägyptischen Museum seien quasi Dubletten zu Stücken, die in Ägypten blieben, oder Objektgruppen wie Keramik, die man in Ägypten nicht habe behalten wollen. Er gibt zwar zu, dass die Praxis der Fundteilung „nicht hundertprozentig frei von Kolonialbeziehungen" war. Ägypten habe ihre Rechtmäßigkeit aber nie in Frage gestellt, obwohl sie 1983 abgeschafft wurde. Rückforderungen aus Ägypten gebe es nicht.

„Alles, was wir hier haben, als Raubgut zu bezeichnen, ist in gewisser Weise neokolonial", sagt die Direktorin des Grassi Museums für Völkerkunde Léontine Meijer-van Mensch. „Wir haben wunderbare Beispiele von Objekten, die ganz bewusst für einen europäischen Markt hergestellt wurden." Sie als Raubgut zu klassifizieren, würde bedeuten, die Hersteller*innen nur als Opfer, nicht als Akteur*innen darzustellen. Deswegen ist Provenienzforschung, also die Suche nach der Herkunft der Objekte, so wichtig für den Prozess der Dekolonisierung und Restitution, also Rückgabe.

Es geht aber auch darum, den Herkunftsländern Möglichkeiten zur Identitätsbildung zurückzugeben. Vielen Ländern, die mal Kolonien waren, fehlt ihr kulturelles Erbe, weil es in Museen - man möchte sagen „auf der ganzen Welt", aber letztlich doch fast ausschließlich im globalen Norden - ausgestellt wird. Das bedeutet nicht, dass Museen „von 100 Löffeln 100 Löffel zurückgeben müssen", wie Scheps-Bretschneider sagt. Vielmehr gehe es um einzelne kulturstiftende Objekte, die Lücken ins gemeinschaftliche Gedächtnis der Herkunftsgemeinschaften gerissen haben. Zudem wollen die Betroffenen meist selbst, dass einige Objekte bleiben wo sie sind, um von ihrer Kultur zu erzählen. Damit sei auch eine Art Stolz verbunden, erzählt Scheps-Bretschneider.

Eine rote Linie gibt es jedoch: „Menschliche Knochen stellen wir nicht aus", betont Meijer-van Mensch. Darauf konzentrieren sich aktuell auch die Rückgabebemühungen des Museums. Für den vergangenen April war eigentlich eine weitere Übergabe geplant, die aber wegen der Pandemie verschoben werden musste: Yawuru und Karajarri hätten die Knochen ihrer Vorfahr*innen zurückbekommen. Es wäre nach Zeremonien mit Menang, Ngarinjarri und Gurnaikurnai die letzte Rückgabe an Gruppen in Australien gewesen, der Höhepunkt eines langen Prozesses. Denn „man kann Ahnen nicht zurückholen, ohne das vorzubereiten", sagt Scheps-Bretschneider. Das Ende der Rückgaben an australische Gruppen bedeutet jedoch nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe, sondern den Anfang einer neuen, „relationellen Ethik", wie Meijer-van Mensch sie nennt: „Museen müssen ganz neue ethische Beziehungsgeflechte aufbauen." Das Museum bleibe mit den Gemeinschaften in Kontakt, engagiere sich auch für den Bau einer Gedenkstätte mit den Yawuru und Karajarri. „Mit der Rückführung stoßen wir einen Heilungsprozess an", sagt Meijer-van Mensch.

Selbst nach der letzten Rückgabe an australische Gruppen steht der Rückführungsprozess aber noch ganz am Anfang: 2000 Schädel und Gebeine verbleiben in der Sammlung, die zurückgegeben werden müssen - ganz zu schweigen von den vielen Objekten wie Speeren, Schüsseln oder eben Matten. Davon hat mehr als die Hälfte einen kolonialen Hintergrund, die Herkunft aller Gegenstände herauszufinden wird Jahrzehnte dauern.

An der Universität Leipzig zeigt sich ein ähnliches Bild. Immer noch lagern im Archiv des Instituts für Anatomie 24 Gipsköpfe und Schädel, die in den 1930er Jahren von dort ins Institut für Ethnologie und vor wenigen Jahren wieder zurückgewandert sind. Pläne für Restitutionen gibt es im Institut für Ethnologie nicht. Knochen haben in der Diskussion um koloniales Raubgut eine besondere Bedeutung, nicht nur weil Gruppen ihrer Vorfahr*innen und wichtiger Bestandteile ihrer Kultur beraubt wurden. In der sogenannten Kraniometrie stellten Mediziner*innen und Anthropolog*innen an angeblichen Unterschieden in der Schädelform Theorien auf, die Rassismus wissenschaftlich begründen sollten.

Die Auseinandersetzung mit dieser kolonialen Vergangenheit müsse deswegen viel öffentlicher werden, fordert Claudia Maicher, Landtagsabgeordnete der Grünen, die sich schon lange für Restitutionen einsetzt. „Es darf nicht bei Provenienzforschung und Rückgabe bleiben, es müssen Diskussionen über historische Kontinuitäten angestoßen werden", sagt sie. Erst dadurch könne man verhandeln, was interkulturelles Zusammenleben im Kontext kolonialer Vergangenheit bedeutet. Auch Scheps-Bretschneider betont, dass koloniale Prozesse bis heute fortwirken. Deswegen will Meijer-van Mensch im Grassi Museum „die Deutungsmacht abgeben". Das bedeute zu fragen, „wer hier eigentlich der Experte ist" und die Herkunftsgemeinschaften stärker in die Erzählung über ihre Gegenstände einzubinden, sie selbst erzählen zu lassen. Scheps-Bretschneider weist auf den Vorteil der Museen hin, nicht auf den materiellen Wert von Gegenständen achten zu müssen. Dadurch könne man in Ausstellungen fragen, welchen Wert sie in der Herkunftsgesellschaft hatten. Man werde Gegenstände vor der Rückgabe noch einmal ausstellen, um Besucher*innen auf die Facette ihrer kolonialen Vergangenheit schauen zu lassen: quasi eine Linse, die ein anderes Licht auf die altbekannten Töpfe und Schilde wirft. Gerade das ist die Chance, die in Provenienzforschung und Restitution liegt. Sie macht Kolonialgeschichte durch die Geschichten ihrer Gegenstände sichtbar. So wie jene der geflochtenen Matte, die nie dort ankam, wo sie ankommen sollte, aber gerade deswegen so interessant ist.

Alle Artikel mit dieser Grafik gehören zur Online-Thema-Seite Juni. Damit wir keine rassistischen und klischeehaften Objekte grafisch reproduzieren, zeigt die Thema-Grafik dieses Mal Leipzig und den Kolonialstein. Der Findling in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals diente seit den 1920er Jahren als Erinnerung an den „Verlust" der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg. Die Inschrift „Deutsche, Gedenkt Eurer Kolonien" wurde in der DDR entfernt. /pb

Grafik: Marie Nowicki

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