In ihrem Roman "Das Seidenraupenzimmer" sucht die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata nach Auswegen aus der menschlichen Existenz.
An einem Tag im April unternahm ein Mann in der japanischen Millionenstadt Kawasaki das Unvorstellbare. Takehiro Shimada schloss seine 7-Eleven-Filiale. Japans Convenience-Stores, die sogenannten Konbini, sind rund um die Uhr geöffnet und ein fester Bestandteil der nationalen Infrastruktur. Vor Covid-19 hatte Shimada, wie er der New York Times versicherte, in über 20 Jahren nur ein einziges Mal geschlossen - zur Renovierung. Es brauchte eine Pandemie, damit der rigide Konzern seinen Ablegern den Segen zum Schließen erteilte.
Was wohl die Heldin aus Sayaka Muratas Roman "Die Ladenhüterin" davon gehalten hätte? In dem Buch, das 2016 erschienen ist und aus dem Nichts zum Weltbestseller avancierte, findet eine Frau, die sich von kleinauf als Sonderling versteht und nicht so recht weiß, was all diese gesellschaftlichen Konventionen für einen Sinn haben, ihren Frieden, indem sie diesen Konventionen exakt entspricht und auf diese Weise zur ideal angepassten Durchschnittsjapanerin wird. Ihre Suche nach der maximalen gesellschaftlichen Widerstandslosigkeit führt sie in die so allgegenwärtigen wie unsichtbaren Position der Konbini-Verkäuferin. Sie kaschiert ihr Anderssein durch die absolute Anpassung. Denn, in ihren eigenen Worten: "Normalität setzt sich gewaltsam durch." Wie seltsam jene Menschen, die sich für normal halten, aber in Wahrheit sind, offenbarte sich unter dem Blick von Muratas Heldin.
Sayaka Murata, 1979 geboren, hat selbst neben dem Schreiben jahrelang in einem Konbini gearbeitet. Mit ihrem so luziden wie subversiven Roman traf sie einen Nerv in ihrem Heimatland: Er wurde in Japan gut 600.000 mal verkauft, erhielt den renommiertesten Literaturpreis des Landes, den Akutagawa-Preis.
Nun ist ihr neuster Roman unter dem Titel "Das Seidenraupenzimmer" auf Deutsch erschienen. Er ist formal komplexer, sein Personal vielgestaltiger, die Stimmung düsterer. Es geht zwar wieder um Außenseitertum und die Erwartungen des Kollektivs an das Individuum. Doch der Fokus ist diesmal ein anderer. Im Kern geht es um weibliche Selbstbestimmung und die Verästelungen des patriarchalen Gesellschaftssystems.