Was geschah am 26. August in ? Nachdem in der Nacht zu jenem Sonntag ein Mann erstochen worden war, mutmaßlich von einem Syrer und einem Iraker, hatte sich am folgenden Nachmittag ein spontaner Protestzug formiert und war durch die Innenstadt von Chemnitz gezogen. Beobachter und Augenzeuginnen hatten berichtet, dass aus diesem Zug heraus Menschen gejagt und angegriffen worden seien. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte jedoch wenig später, es habe "keinen Mob, keine Hetzjagd in Chemnitz" gegeben. An diesem Freitag äußerte sich nun der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, in der Bild. Maaßen sagte, dem Verfassungsschutz lägen "keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben". Er bezweifelte auch die Authentizität eines Videos, das einen solchen Vorfall zeigen soll. Wörtlich sagte er: "Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist." Außerdem sagte er: "Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken."
Dies sind schwerwiegende Vorwürfe. Treffen sie zu? Was hat sich tatsächlich in Chemnitz zugetragen? ZEIT ONLINE hat die wichtigsten Informationen zusammengetragen.
Was sagen die Behörden?Die Generalstaatsanwaltschaft hat bestätigt, dass es während der Demonstration zu Ausschreitungen gekommen ist. Sie hat Videoaufnahmen ausgewertet und spricht von einer "Vielzahl von Straftaten", darunter Landfriedensbruch, Körperverletzung, Beleidigung und Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat auch keine Zweifel an dem Video, das bemängelt. Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein sagte ZEIT ONLINE: "Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte." Daher werde es für die Ermittlungen genutzt. Man gehe außerdem davon aus, dass Alihassan S. das im Video zu sehende Opfer des Angriffs ist. Ze.tt hatte das zuerst berichtet ( hier der Bericht). Kontakt zu Verfassungsschutzchef Maaßen habe man nicht und wisse daher auch nicht, aufgrund welcher Informationen er zu seinen Schlussfolgerungen gekommen sein könnte.
Was ist von dem Video zu halten?In dem Video sind mehrere Männer zu sehen, die von links ins Bild laufen, dann kommen zwei Männer mit Jeansjacken und schwarzen Haaren ins Bild. Auf einen der Schwarzhaarigen sprintet von rechts ein weiterer Mann in schwarzer Hose und schwarzem Kapuzenshirt zu. Er versucht im Laufen, den nun Flüchtenden zu treten. Zu hören sind verschiedene Sätze von verschiedenen Sprechern: "Haut ab." "Was ist denn, ihr Kanaken?" Eine weibliche Stimme sagt: "Hase, du bleibst hier. Du bleibst hier." Schließlich der gebrüllte Satz: "Da könnt ihr rennen, ihr Fotzen." Die Szene ist nur wenige Sekunden lang.
Am Ende des Videos kommt ein weiterer Mann ins Bild, der zuvor nur mit dem Rücken zu dem oder der Filmenden stand. Er dreht sich in die Kamera, wobei die Aufschrift auf seinem schwarzen T-Shirt teilweise sichtbar wird. Es zeigt die Worte "Tradition statt Invasion" und ein wappenartiges Logo des Chemnitzer Stadtteils Einsiedel. Den "Tradition"-Slogan hat in früheren Jahren die NPD verwendet, um zu Demonstrationen aufzurufen, beispielsweise hier.
Es ist unklar, wer das Video aufgenommen hat. Doch es lässt sich belegen, dass es an jenem Sonntag in Chemnitz aufgezeichnet worden ist. Das Video zeigt, wie im Hintergrund ein Mann mit Glatze, Sonnenbrille und blau- oder türkisfarbenem T-Shirt durchs Bild läuft. Er hat sich eine blaue Jacke um die Hüfte gebunden. Dieser Mann gehört offensichtlich zur Gruppe jener, die auf den Schwarzhaarigen mit der Jeansjacke zuliefen, versuchte selbst aber nicht, diesen zu erreichen oder zu treten.
Der Mann mit der blauen Jacke ist wichtig. Denn er findet sich auf zwei weiteren Videos, die am selben Tag von zwei weiteren Personen unabhängig voneinander gedreht worden sind. Er kann damit als Beleg dafür dienen, dass das diskutierte Video echt ist.
Zu sehen ist der Mann mit der blauen Jacke einerseits in einem Video, das am 26. August um 20.18 Uhr veröffentlicht und offenbar zuvor nahe der Stelle des diskutierten Videos aufgezeichnet worden ist. Mehrere Personen laufen dort über eine Straße, darunter klar erkennbar der Mensch mit der Glatze, dem türkisfarbenen T-Shirt und der blauen Jacke. Gefilmt wurde es an der Stelle des Übergriffs, jedoch aus anderer Perspektive und möglicherweise kurz danach.
Außerdem ist der Mann mit der blauen Jacke auf einem weiteren Film zu sehen, der den Demonstrationszug der Hooligans dokumentiert. Das Video liegt ZEIT ONLINE und der ZEIT vor. Es wurde von Alihassan S. gedreht, dem Mann, den die Generalstaatsanwaltschaft Dresden als Opfer des Angriffs erkannt hat. Aziz, wie S. von seinen Freunden genannt wird, hatte mit seinem Handy die Spontandemo gefilmt, die sich in Bewegung gesetzt hat und ruhig bleibt - bis an der Spitze des Zuges plötzlich eine größere Gruppe von Männern losrennt. Die Männer stürmen über die Straße durch ein paar Bäume hindurch, sie laufen offenbar jemandem hinterher. ZEIT ONLINE und DIE ZEIT haben die Standortdaten des Videos direkt auf dem Handy ausgelesen. Sie zeigen, dass es tatsächlich auf der Bahnhofstraße aufgenommen wurde, der Zeitstempel belegt, dass es vom 26. August 2018 stammt, dem fraglichen Sonntag. Auf dem Video, das bislang unveröffentlicht ist, sind teilweise die selben Männer zu sehen, wie auf dem offenbar zeitlich kurz später gefilmten Video, das den Übergriff zeigt - unter ihnen der fragliche Mann mit der blauen Jacke um die Hüfte.
Die Uhrzeit, zu der das strittige Video des Übergriffs aufgenommen wurde, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Hochgeladen wurde es bei Twitter am 26. August um 20.56 Uhr. Es kann also keinen späteren Zeitpunkt zeigen. Die Sonne ging an diesem Tag in Chemnitz um 20.09 Uhr unter, doch auf dem Video ist es noch heller Tag. Der Marsch setzte sich am Karl-Marx-Denkmal um 16.38 Uhr in Bewegung, wie dieses Foto dokumentiert - wahrscheinlich also lag die Situation zwischen diesen Zeitpunkten.
Anhand von im Bild sichtbaren Bauten und Verkehrsschildern lässt sich verifizieren, wo der oder die Filmende gestanden haben muss: An der Bahnhofstraße kurz vor der Kreuzung Brückenstraße nahe des Johannisplatzes. Der Journalist Lars Wienand hat diesen Verifikationsprozess hier dokumentiert.