Es ist ein mitunter etwas eigenartiges Phänomen, das einem begegnet, wenn man als Exil-Bayer aus Österreich ins Bayernland zurückkehrt. In Österreich könne man sich glücklich schätzen. Da sei die Welt noch in Ordnung. Denn da hat einer alles in Griff. Weil „ihr" habt's ja den Sebastian Kurz. Auf Heimaturlaub bekomme ich manchmal den Eindruck, man würde Markus Söder nur allzu gern gegen den türkisen Wunderwuzzi mit der Gelfrisur eintauschen. Nicht, dass Söder in Bayern unbeliebt wäre - nur der Sebastian, der ist eben noch toller.
Die Lobeshymnen auf den „Heiligen Sebastian" schalmeiten bereits vor Ausbruch der Coronakrise durch den Freistaat - und kulminieren seither in frenetischen Huldigungen, wie man sie in den vergangenen 2.000 Jahren nur dem Religionsstifter offerierte. Immerhin: Palmwedeln habe ich noch keine gesehen. Ich, wahrlich politisch nicht uninteressiert, erfahre in Bayern teilweise Dinge über die österreichische Innenpolitik - also über Sebastian -, die ich selbst noch nicht wusste. Jede Grundschülerin scheint zu wissen, dass Bayern immer exakt zwei Wochen später coronapolitisch dasselbe unternimmt wie Österreich - und das ist auch gut so, denn die Nachbarn mit den vielen Bergen haben schließlich den „jungen Fesch'n" an der Spitze. Passé ist der spöttische Blick auf die „Ösis" von nebenan, die außer Skifahren und Schnitzelpanieren nichts weiter auf die Reihe bekommen - denn die haben jetzt einen „Jungen" ins Kanzleramt gehievt. Und merke: Neu ist immer besser. Weil alt ist alt.
Nach 70 Jahren ist plötzlich „Zeit für Neues"Womit wir beim Kern der Sache angelangt sind. Ich frage mich - ernsthaft - manchmal, wie sich Markus Söder fühlt. Der müht und strampelt sich ab, erzielt ein Umfragehoch nach dem anderen - und trotzdem würden ihn gefühlt die meisten bereitwillig gegen einen Mitte-30er tauschen, der weder Berufserfahrung noch Studienabschluss vorweisen und keine zwei Sätze sprechen kann, ohne zu betonen, dass er es war, der die „ Balkanroute " dicht machte.
Mit dem Wahlslogan „Zeit für Neues" schaffte es Kurz im Oktober 2017 ins Kanzleramt - ein schneidiges Statement, wenn man bedenkt, dass seine ÖVP in den vergangenen 70 Jahren an nahezu jeder Regierung beteiligt war. Die schwarze ÖVP heißt seitdem auch nicht mehr ÖVP, sondern „Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei". Und ist auch nicht mehr schwarz, sondern türkis. Ein beachtlicher Wandel für eine konservative Partei, deren Aufgabe einst darin bestand, zu bewahren, zu konservieren.
Aber keine Sorge: Konserviert wird auch unter der Herrschaft des Wunderwuzzis noch genug. „Zeit für Neues" entpuppte sich in vorliegendem Fall als Politik, die sich inhaltlich an Jörg Haider und äußerlich an Coca-Cola orientierte: scharf rechts und gut aufpoliert. Es ist das Image, die Symbolik, die Message, die seither zählt. Die Gang der Grauhaarigen und Buckligen, die bei ÖVP-Auftritten vormals im Scheinwerferlicht stand, musste einem Grüppchen neokonservativer Hippster weichen, die sich um den Heilsbringer Sebastian scharen und genauso gut bei jeder x-beliebigen Start-up-Messe anzutreffen sein könnte.
Mit Grün koalieren, mit der FPÖ sympathisierenEs spricht für den gegenwärtigen Zustand der Konservativen in Mitteleuropa, dass es ausgerechnet Kurz ist, der als einer von Wenigen Erfolge verzeichnet. Nach gut 300 Jahren Aufklärung hat es sich auch in den konservativsten Ecken - nicht flächendeckend, aber merklich - rumgesprochen, dass Frauen nicht von Natur aus für den Herd bestimmt sind und die magische Hand des Marktes nicht zwangsläufig zum Wohle aller arbeitet. Aber ein frisches - so junges und so fesches - Gesicht und eine Politik, die weniger parlamentarischen als vielmehr marketingstrategischen Spielregeln folgt, lassen selbst den Brei von vorgestern wieder schmackhaft ausschauen. Mit der Kurz'schen nationalistisch-konservativen Coca-Cola-Politik fischt es sich auch prima am rechten Rand; der Inhalt zählt ohnehin kaum noch, nur noch dessen Vermitteltheit. Und so kann der Wunderwuzzi mit Grün koalieren - und gleichzeitig mit der FPÖ sympathisieren.
Kurz' Corona-Politik mutiert derweilen zum Fiasko. Diverse Gesetze wurden nachträglich vom Verfassungsgericht wieder aufgehoben und andere wegen juristischer Mängel erst gar nicht zugelassen. Österreich verzeichnet eine Rekordarbeitslosigkeit, die Kultur-Branche steht vor dem Bankrott und die vielgepriesene Corona-Ampel ähnelt eher einer Diskokugel, die zwar viel blinkt, aber eben in alle Richtungen. Wenn einer in dieser Krise wirklich besonnen agiert - und dabei sogar öffentlich und ohne Scharm Fehler einräumen konnte - ist das Rudolf Anschober. Liebe Leserinnen und Leser aus Bayern und dem restlichen Nicht-Österreich, kennen Sie den?