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Eine Betroffene erklärt, wie es wirklich ist zu erblinden

Foto: Natalia Medd | flickr | CC BY-SA 2.0


"Ein Sehender kann sich nicht in die Welt eines Erblindeten hineinversetzen", erklärt mir Roswitha. Sie kann das mittlerweile gut verstehen. Sie hat beide Seiten erlebt. Über 50 Jahre lang hat sie ihr Leben hauptsächlich durch ihre Augen wahrgenommen. Sie trug nicht einmal eine Brille. Doch dann hatte sie plötzlich Schwierigkeiten, die Aufsätze der Kinder beim Korrigieren zu lesen. Das ist nun zehn Jahre her.

Durch das Telefon kann ich sie nicht sehen, aber ich kann mir ihre Lachfalten regelrecht vorstellen. Sie redet fast schon positiv über das Blindsein. Ich hätte mir vor diesem Telefonat nicht vorstellen können, dass Menschen mit einer derartigen Leichtigkeit darüber reden könnten. Mal abgesehen davon, dass man sich als "normal Sehender" sowieso kaum mit dem Blindsein beschäftigt-also außerhalb der Klischees. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit der Erblindung gar nicht so gering.

Es gibt viele Möglichkeiten zu erblinden. Auch ich trage einen dieser Risikofaktoren mit mir herum. Ein erhöhter Augeninnendruck, der laut den Aussagen meines Augenarztes "vielleicht, irgendwann einmal" zur Erblindung führt. Ich erinnere mich daran, dass ich mich nach der Prognose ziemlich eigenartig gefühlt habe. Roswithas Mann schreibt mir, dass es seiner Frau ähnlich gegangen wäre wie mir. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihre Diagnose bedeutet. Auch sie hatte Angst vor der vielbesagten "Dunkelheit"-wie gesagt, ein Klischee. Die Dunkelheit ist nämlich nicht eingetreten, wie sie mir später erzählen wird. Erblindet ist sie trotzdem. Die Diagnose von Roswitha lautete: Retinitis Pigmentosa.

Das bedeutet, dass erst Zäpfchen und Stäbchen verschwinden und sich schließlich die Netzhaut ablöst. Eine unheilbare Erbkrankheit. Roswithas Sichtfeld reduzierte sich auf einen immer enger werdenden Tunnel. Bis das Ende des Tunnels zu klein wurde, um noch etwas zu erkennen. Ihre Sehstärke liegt mittlerweile bei einem bedrohlichen Wert von unter 3 Prozent. Sinkt der Wert auf 2 Prozent ab, gilt sie offiziell als vollständig erblindet. Bis zu dieser Nuance bleibt sie hochgradig sehbehindert. Damit zählt sie zu 285 Millionen Menschen weltweit, deren Sehstärke beeinträchtigt ist.

Wie sehr sich das Leben durch eine Erblindung verändert, hörte sie zum ersten Mal bei einer Diskussionsrunde von Sehbehinderten und Blinden. "Ich habe da wirklich sehr ernste Statements gehört", erinnert sie sich. "Von dem Beginn eines neuen Lebens bis hin zu 'Man kann so nicht weiterleben'. Als ich da hinausgegangen bin, habe ich für mich beschlossen, dass ich sofort mein Leben umstellen muss. Dass ich mich von allem, was ich bisher gemacht habe, verabschieden muss."

Für Roswitha hieß das, dass sie ihren Beruf als Nachhilfelehrerin in dieser Form nicht mehr ausführen konnte. Auch das Malen musste sie aufgeben: "Ich hab es gelassen und damit ausgeglichen, dass ich in den Chor gegangen bin. Ich bin sehr akustisch geworden." Dass sich die anderen Sinne schärfen und den Sehsinn ersetzen, ist womöglich den meisten Sehenden bewusst.

Nur hat man als Sehender oft das Gefühl, dass eigentlich kein Sinn den Sehsinn ausreichend ersetzen kann. Deswegen macht mir Roswitha bewusst, dass es eine wichtige Entscheidung ist, sein Leben gut weiterzuführen. Fast wie eine Hürde, die aber nicht unüberwindbar ist. "Solange du körperlich und geistig fit bist, ist die Erblindung zu ertragen. Sonst hast du die Kraft nicht mehr."

Erblindete brauchen diese Kraft, weil sie besonders in den ersten Monaten viel mit ihrer eigenen Gefühls- und Empfindungswelt zu kämpfen haben. Viele können nicht verstehen, warum es gerade sie trifft. Man fühlt sich oft allein gelassen. Roswitha hat deswegen von Anfang an versucht, dieses Selbstmitleid zu unterdrücken. "Ich habe nie hinterfragt, wieso es gerade mich getroffen hat. In Selbstmitleid zu schwelgen, ist für mich nicht in Frage gekommen, weil es nicht hilft. Ununterbrochen auf dem Blindsein herumzureiten, das wollte ich nicht. Es ist nicht mehr zu ändern."

Man glaubt, es ist alles schwarz-auch von der Stimmung her. Aber es ist nicht so.

Davor hatte sie sich nie mit der Blindheit auseinandergesetzt. "Man glaubt bei Erblindeten, da ist alles schwarz-auch von der Stimmung her. Aber es ist nicht so. Ich sehe alles das, was ich kenne, und alles andere trainiere ich mir an."

Sie redet im Gespräch fast nicht über die alltäglichen Sachen, die man als Sehender beim Gedanken an das Blindsein höchstwahrscheinlich am meisten vermissen würde. Der Verlust der Selbstständigkeit stellt für die meisten Blinden die größte Schwierigkeit dar. "Ich muss wissen, wann ich Hilfe in Anspruch nehmen muss. Das ist vielleicht eine Hürde am Anfang, sich da als blind zu outen. Besonders auch, weil man sich als Blinder schnell auf seine Krankheit reduziert fühlt."

Roswitha erlebt oft, wie die Leute Angst vor ihr haben. Sie wollen nichts falsch machen und werden übervorsichtig. Obwohl sie gar keinen Blindenstock besitzt und auch ihre Brille mittlerweile abgelegt hat. "Ich habe schon Statements gehört wie: 'Deine Brille ist so dunkel, da sieht man dich nicht.'" Doch die Brille war dabei eigentlich nie das Problem. Die Leute tun sich schwer damit, ihr bei Gesprächen in die Augen zu blicken. Weil sie glauben, dass Roswitha das sowieso nicht wahrnehmen könnte. Andere wiederum reagieren irgendwann genervt, weil man ihr jede Situation beschreiben muss.

Sie versucht, diese Reaktionen mit Humor zu nehmen. Die "Härte des Andersseins", wie sie es formuliert, hat sie erst einmal erlebt. In einem Seminar, als die anderen Teilnehmer sie aufgrund ihrer Erblindung ausgeschlossen haben. Sie lacht, wenn sie mir von ihren Freunden erzählt. Dass sie sich das Blindsein nicht vorstellen können. Manche würden sie auch bemitleiden. "Aber für mich ist es normal."

Sie redet so locker über ihre Erblindung, als würde sie von einer Niete beim Lotto erzählen.

So normal, wie es eben geht. Die Krankheit zieht sich jetzt schon über zehn Jahre hin. Vor ein paar Monaten hat Roswitha bemerkt, dass sie nun nachtblind ist. Mit dem Einsetzen der Dämmerung wird es für sie unmöglich, ihre Umgebung zu erkennen. "Ich habe mich hilflos gefühlt. Ich konnte nicht mehr auf die Straßen gehen, sobald es dunkel wurde. Auch in meinem eigenen Ort, ich würde gegen jedes Hindernis laufen. Das hat mich irgendwo geärgert und verschreckt."

Wieder einmal macht die kleine Nuance von nur einem Prozentpunkt den Unterschied. Die restlichen Prozente verschwinden allmählich. "Mit 3 Prozent habe ich Menschen noch erahnt. Mittlerweile erkenne ich Leute nur noch an der Stimme." Gesichter sieht sie schon lange nicht mehr-diese Fähigkeit nimmt die Krankheit schon zu Beginn.

Sie kennt es nicht mehr anders und redet darüber in einer so lockeren Art, als würde sie von einer Niete beim Lotto erzählen. Nicht jeder kann das, das macht sie mir immer wieder deutlich. Viele verzweifeln an ihrer Erblindung. Manche können sich nicht vorbereiten, weil sie schlagartig blind werden. Es ist nicht das Gleiche, wie blind geboren zu werden. Schließlich weiß man, wie die Welt eigentlich aussieht und was man da langsam verliert.

Ich frage sie, ob sie manches am Sehen vermisst. "Letztens hat mir meine Tochter Fotos von meiner Enkelin geschickt. Da tut es mir leid, weil ich die gerne sehen würde. Da nützt die ganze Beschreibung nichts." Das Reisen vermisst sie nicht. "Ich habe nie den Eindruck gehabt, ich muss da noch ein letztes Mal hin, weil ich da sonst nicht mehr hinkomme. Ich nehme den Ort einfach nur anders wahr." Nächste Woche fährt sie nach Korfu. Sie war da noch nie. Dass sie sich die Insel vor ihren inneren Augen vorstellen müssen wird, stört sie nicht. Sie hat ein neues Leben begonnen, weit entfernt von unserer visuell fixierten Welt: "Geschichten anders zu erfahren, ist besser als gar nicht."

Titelfoto: Natalia Medd | Flickr | CC BY-SA 2.0

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