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Neuwahlen: Afghanistan unsicherer denn je

Direkt vor der Parlamentswahl erschüttern blutige Anschläge Afghanistan. Im Sommer waren in Sammelflügen noch mehr Afghanen denn je aus Deutschland nach Kabul zurückgeschickt worden. Nicht länger vertretbar, meinen Menschenrechtsorganisationen.

Es ist bereits Nacht, als die offizielle Bestätigung kommt: Der Polizeichef von Kandahar, ein wichtiger, wenngleich umstrittener Partner der Allierten bei der Stabilisierung des afghanischen Südens, ist ermordet worden. Kurz nach einem Treffen mit dem NATO-Oberbefehlshaber soll er von einem Bodyguard erschossen worden sein.

Auch der Geheimdienstchef von Kandahar ist tot, der Gouverneur und zwei US-Soldaten wurden offenbar verletzt.

Der Hintergrund: Am Samstag wählen die Afghanen ein neues Parlament. Neun Millionen Wähler sind registriert, rund 2500 Kandidaten treten an für die 249 Sitze im Unterhaus um den seit 2014 amtierenden Präsidenten Ashraf Ghani.

© Jana Schulze / Vorwärts

Die Gewalt in den Straßen erreicht im Vorfeld einen Höhepunkt: Zehn Parlametskandidaten starben innerhalb von wenigen Wochen. Fast immer bekannte sich die islamistische Taliban zu der Taten.

In Lashkar Gah, Hauptstadt der Provinz Helmand, wurde durch einen Selbstmordanschlag mit einer Autobombe mindestens eine Person getötet. Zuletzt meldete die BBC, dass ein Abgeordneter in seinem Wahlkampfbüro durch einen mit einem Sprengsatz präparierten Bürostuhl in die Luft gejagt worden sei.

Gewalttätige Menschenrechtsverletzungen

Politische Beobachter überrascht die erneute Gewalteskalation nicht. „In seinem kürzlich erschienenen Bericht zur Situation in Afghanistan wird auf schwerwiegendste gewalttätige Menschenrechtsverletzungen durch Taliban und den IS hingewiesen, einschließlich Hinrichtungen, Folter und Misshandlung“, sagt der Chef der deutschen Vertretung des UN-Flüchtlingswerks UNHCR Dominik Bartsch im Gespräch mit dem „vorwärts".

„In den von diesen Organisationen kontrollierten Gebieten wird das staatliche Machtvakuum auch durch eine eigene Justiz begleitet, zu deren Strafmaßnahmen Erschießungen und Steinigungen, Verprügeln und Auspeitschen oder auch Amputationen gehören. Durch Verfolgungsakte sind beispielsweise Menschen besonders gefährdet, die von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit oder auf freie Religionsausübung Gebrauch machen oder die sich am politischen Willensbildungsprozess beteiligen.“

Ein Toter pro Woche

Pro Woche stirbt nach den UN-Zahlen derzeit ein Mensch in Afghanistan bei einem Anschlag – keine Sondersituation, sondern Alltag. Im Jahr 2017 wurden 2300 Tote verzeichnet – ein neuer Rekord. Im ersten Halbjahr 2018 sind bereits 1700 Zivilisten gewaltsam zu Tode gekommen. Das ist die höchste Zahl seit einer knappen Dekade. Seit Januar sind mindestens 653 Kinder im Konflikt in Afghanistan getötet und 1483 weitere verletzt worden. Die Organisation Save the Children mahnt Regierungen daher – zusammen mit UN und Pro Asyl – von Abschiebungen nach Afghanistan abzusehen.

Auch das Auswärtige Amt bewertet die Lage als unberechenbar: „Wer (nach Afghanistan, Anm. d. Red.) reist, muss sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte einschließlich Entführungen bewusst sein“, heißt es im Reisebericht. Jede Reise beinhalte die „unverminderte Gefahr, Opfer einer Gewalttat oder einer Entführung“ zu werden. Jeder Aufenthalt „in weiten Teilen des Landes“ bleibe gefährlich. Jeder längerfristige Aufenthalt sei „mit zusätzlichen Risiken“ behaftet. Wer dennoch nach Afghanistan fahre, brauche ein „tragfähiges professionelles Sicherheitskonzept“, denn „wegen immer wieder und in vielen Landesteilen aufflammender Kämpfe zwischen afghanischen Sicherheitskräften und vor allem den Taliban, aber auch dem regionalen Ableger des sogenannten Islamischen Staats, ist die Sicherheitslage in großen Teilen des Landes unübersichtlich und nicht vorhersehbar. (Es, Anm. d. Red.) kann landesweit zu Attentaten, Überfällen, Entführungen und anderen Gewaltverbrechen kommen“. Abgeraten wird von Überlandfahrten – wegen der Terroristen. Abgeraten wird auch von Wanderungen – wegen Minengefahr.

In dem neuen UN-Bericht – der gegenüber der 2016 festgestellten Situation deutliche Verschlechterungstendenzen festhält – wurde deshalb besonders der Abschnitt zu „internen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative“  (internal flight or relocation alternative, IFA/IRA) angepasst. Auch die Richtlinien des Jahres 2016 hatten eine sorgfältige Einzelfallprüfung gefordert und darauf hingewiesen, dass in Afghanistan für viele Personen keine zumutbare interne Fluchtalternative existiere. Ausnahmen wurden damals allerdings angenommen bei alleinstehenden Männern und verheirateten Paaren im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf.

In der neuen Fassung der Richtlinien wird klargestellt, dass die Sicherheitslage einen negativen Trend aufweise, wodurch „Angehörige der Zivilbevölkerung, die am alltäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben in Kabul teilnehmen, einem Risiko ausgesetzt sind, der allgemeinen Gewalt zum Opfer zu fallen, von der die Stadt betroffen ist.“

Beim bereits länger zurückliegenden negativen Abschluss von Asylverfahren würde daher dringend Anlass bestehen, Anträge noch einmal zu prüfen, so UNHCR-Deutschland-Chef Bartsch: „Nur nach eingehender, individueller Prüfung des Schutzbedarfs auf Grundlage aktuellster Herkunftslandinformationen kann eine Abschiebung überhaupt in Betracht kommen.“

Und eine Entspannung der Lage im Land ist derzeit nicht in Sicht: Beobachter befürchten, dass die radikalislamischen Taliban, die 2001 gestürzt und aus der Hauptstadt Kabul vertrieben worden waren, bei den anstehenden Wahlen erneut an Boden gewinnen könnten.