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Afghanische Kinder: Ausreise ins Ungewisse

Traumatisiert, vernachlässigt, geschlagen: Nach einer Studie der Kinderrechtsorganisation „Save the Children“ werden bei Rückführungen von Kindern aus europäischen Staaten nach Afghanistan fundamentale Kinderrechte nicht gewährleistet – auch nicht, solange sie noch unter Aufsicht der Ausreisestaaten stehen.


57 Kinder, die aus Europa nach Afghanistan zurückkehrten, hat die Kinderrechtsorganisation „Save the Children" für einen Bericht über die Dauer eines Jahres befragt. Neun von ihnen kamen aus Deutschland.

Das Zeugnis, das sie nun den Regierungen in Deutschland und anderen europäischen Staaten ausstellt, ist beschämend: Rund drei Viertel der Kinder fühlten sich während der Abschiebung oder Rückführung verängstigt, mehr als die Hälfte hat Gewalterfahrungen gemacht, während sie noch formal unter Aufsicht und Schutzpflicht westlicher Behörden standen. Einigen der Minderjährigen seien im Flugzeug Handschellen angelegt worden. Andere seien durch Polizei eskortiert oder am Flughafen von ihren Familien getrennt worden.

Versuche von Zwangsrekrutierungen durch Terroristen

Laut der Studie seien viele jener afghanischen Kinder, die zusammen mit Partnerorganisationen aus Norwegen und Schweden identifiziert und neben ihren Familien und NGO-Vertretern befragt worden waren, von Gewalt und Zwangsrekrutierungen durch Terroristen bedroht gewesen (rund 20 Prozent).

Drei Viertel der Kinder erklärten, aus Angst vor Terror, Gefechten und wegen mangelnder Zukunftsperspektiven erneut flüchten zu wollen. Nur drei der 57 hätten einen Reintegrationsplan bekommen - also Informationen, wie sie sich nach der Landung in Kabul weiter verhalten könnten. Zwei Drittel der Kinder wiesen psychosoziale Belastungssyndrome wie starke Angst, Wut oder Ohnmachtsgefühle auf. In einer familiengeprägten Gesellschaftsstruktur wie Afghanistan fehle es allerdings an psychosozialen Betreuungsstrukturen. Auch zur Schule könnten sie dort nicht weiter gehen.

Stigma Fluchterfahrung

Die Abschiebung - oder Rückführung im Rahmen freiwilliger Rückkehrprogramme, die mit finanziellen Anreizen arbeiteten - bedeute eine Fahrt „ins Ungewisse". Einige der Kinder seien gar nicht in Afghanistan, sondern auf der Flucht geboren und daher völlig fremd im Land.

Zudem gelte es als Stigma, im Westen gelebt zu haben: „Manche Leute sagen, dass die Kinder, die in Europa waren, zu Ungläubigen geworden und keine echten Moslems mehr sind", wird ein 19-Jähriger zitiert, der mit 16 aus Österreich zurückgeführt worden war.

„Eins der gefährlichsten Länder der Welt"

Die Sicherheitslage, die die Flucht ursprünglich auslöste, habe sich in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert. Afghanistan sei heute „eines der gefährlichsten Länder der Welt", so Meike Riebau, Rechtsexpertin der Organisation und Studienverantwortliche. Pro Woche stirbt nach UN-Angaben derzeit ein Mensch in Afghanistan bei einem Anschlag. Im Jahr 2017 wurden 2300 Tote verzeichnet - ein neuer Rekord. Im ersten Halbjahr 2018 sind bereits 1700 Zivilisten gewaltsam zu Tode gekommen. Das ist die höchste Zahl seit einer knappen Dekade. Laut einem UN-Bericht wurden seit Januar mindestens 653 Kinder im Konflikt in Afghanistan getötet und 1483 weitere verletzt. „Save the children" mahnt europäische Regierungen daher - zusammen mit UN und Pro Asyl - von Abschiebungen nach Afghanistan abzusehen.

Deutschland schickt seit Ende 2016 wieder abgelehnte Asylbewerber zurück nach Afghanistan, bisher allerdings keine Minderjährigen. Nur das Bundesland Bayern führt laut „Save the children" unbeschränkte Abschiebungen nach Afghanistan durch.


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