Ägypten hat im letzten Jahr einen tiefgreifenden Wandel erfahren, lang etablierte Wertesysteme befinden sich im Übergang. Wie lässt sich diese Revolution in die politische Tradition des Landes einordnen?
Zunächst sollte man festhalten, dass sie nicht einfach vom Himmel gefallen ist. In Ägypten hat sich im letzten Jahrzehnt ein neuer öffentlicher Raum entwickelt. Zu nennen wären hier die politische Oppositionsbewegung Kifaya (deutsch „Genug") sowie die Arbeiterbewegung, die in den letzten Jahren ein öffentliches Forum erarbeitet hat. Durch die erweiterte Öffentlichkeit konnte sich eine Revolution derartigen Ausmaßes erst ereignen. Ebenso haben sich jedoch Herrschaftsmechanismen im autoritären Regime über Jahrzehnte herausgebildet, die auch nach der Revolution noch feststellbar sind.
Sind die ursprünglichen politischen Visionen der Demonstranten zur Farce geworden?Bei genauerem Hinsehen bestanden „die Demonstranten" aus sehr unterschiedlichen Interessensgemeinschaften, die durchaus Teilerfolge erzielen konnten. Politische Oppositionsbewegungen haben es geschafft, neue Parteien zu gründen, was vor der Revolution fast unmöglich war. Oder zum Beispiel die Arbeiterbewegung: Ihr gelang es, den staatlich gelenkten Gewerkschaftsdachverband aufzulösen und ein neues Gewerkschaftsgesetz auf den Weg zu bringen. Hier sieht man, dass sich durchaus Fortschritte verzeichnen lassen, vor allem da, wo es um konkrete Forderungen geht. Solche Teilerfolge motivieren. Der Militärrat versucht jedoch ganz massiv, neu gewonnene Rechte sowohl durch Gewalt als auch durch neue repressive Gesetze zu beschränken.
© Irene Weipert-Fenner Irene Weipert-Fenner
Der religiöse Aspekt wird in der Berichterstattung oft angesprochen, jedoch wenig vertieft. Wie manifestiert sich der Islam momentan in der ägyptischen Herrschaftskultur, und wie sah es vorher aus?Auf der einen Seite diente seit der Ära as-Sadat in den siebziger Jahren der Islam als ein Element der Herrschaftslegitimierung. Auf der anderen Seite wurde unter Mubarak ganz massiv versucht, dem Westen gegenüber den Islamismus als einzige Alternative zum eigenen Regime darzustellen. So wurden die Muslimbrüder von der autoritären Elite zum Feindbild stilisiert, um die Angst vor einer demokratischen Öffnung zu schüren. Derzeit sehen wir, dass sich das Spektrum islamistischer Akteure stark ausgeweitet hat. Die Muslimbruderschaft hat sich in sich ausdifferenziert und wir haben als neue politische Akteure eine starke salafistische Bewegung und auch sufische Parteien. Indem die islamistischen Gruppen seit der Revolution massiv auf die politische Bühne gedrängt haben, wurde der Islam allerdings auch noch stärker zu einem Element der politischen Identitätsbildung, Mobilisierung und Abgrenzung von säkularen Akteuren. Diese Identitätsfrage überdeckt im Moment leider noch allzu oft die Debatten um die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme des Landes.
Wie stark ist die politische Kultur in Ägypten von westlicher politischer Kultur durchdrungen?Ägypten verfügt über eine reiche Geschichte des politischen Liberalismus. So gibt es in Ägypten bereits seit über 150 Jahren ein Parlament, zudem ist das Justizsystem sehr traditionsreich und genießt bis heute in der Bevölkerung hohes Ansehen, womit die Basis für einen Rechtsstaat durchaus vorhanden ist. Das Demokratiepotential hängt meines Erachtens weniger von der Übernahme von Elementen anderer Kulturen ab, sondern ist mehr eine Frage der Machtverhältnisse, die von den neopatrimonialen und klientelistischen Strukturen der Militärdiktatur über Jahrzehnte bestimmt waren und gerade neu ausgehandelt werden.
Wie hat die Revolution die nationale Identität bisher verändert?Der ägyptische Nationalismus war schon immer stark ausgeprägt. Das nationale Bewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl wurde aber durch die Revolution noch einmal verstärkt. Dieses Gefühl der nationalen Einheit wird jedoch jetzt durch den Militärrat instrumentalisiert, der versucht, es einseitig in Richtung Stabilität und Harmonie auszulegen. Dass Pluralismus auf diese doktrinäre Weise verhindert wird, versteht sich von selbst. Außerdem werden so ganz gezielt wichtige politische Fragen verdrängt, beispielsweise die Notwendigkeit einer neuen Wirtschaftspolitik.
Nutzt der Militärrat dieses Gemeinschaftsgefühl also nicht nur als Mittel zum politischen Zweck, sondern auch zu Legitimationszwecken?1 | 2Nächste Seite | Artikel auf einer Seite