ZEIT ONLINE: Monsieur Diarra, in Malta findet gerade der europäisch-afrikanische Flüchtlingsgipfel statt. Ihre Organisation mit Sitz in der malischen Hauptstadt Bamako protestiert scharf gegen dieses Treffen. Warum? Politischer Dialog ist doch gut.
Ousmane Diarra: Bei diesem Treffen wird höchstwahrscheinlich nichts herauskommen, was den Menschen hier in Mali oder überhaupt in Afrika nützt. Das Ergebnis wird stattdessen ein Desaster für die afrikanischen Flüchtlinge bedeuten, die in Europa eine bessere Zukunft suchen. Auf Malta werden politische Fragen verhandelt, keine menschlicheren Fluchtbedingungen. Es geht nur darum, Migration zu behindern. Wir als zivilgesellschaftliche Organisation sind dagegen.
ZEIT ONLINE: Zumindest seitens der EU gibt es ja klare Vorstellungen, was bei dem Gipfeltreffen beschlossen werden soll. Eine Bekämpfung der Fluchtursachen zum Beispiel. Zu diesem Zweck hat man sich gerade auf einen Hilfsfonds geeinigt. Ist das nichts?
Diarra: Fluchtursachen wirklich effektiv zu bekämpfen ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Afrikanische Flüchtlinge verlassen ihre Heimatstaaten aus unterschiedlichsten Gründen. Gerade hier in Mali sind die Konflikte teilweise sehr kompliziert; Boko Haram ist nur ein Teil des Ganzen. Außerdem: Die Leute hören ja nicht von einem auf den anderen Tag auf, zu emigrieren. Man muss deshalb nicht nur die Lebensbedingungen hier vor Ort, sondern auch und vor allem die Bedingungen der Migration verbessern.
ZEIT ONLINE: Es gibt allerdings aktuelle Statistiken, die zeigen, dass nur wenige Prozent der Menschen, die Europa im Moment als Flüchtlinge erreichen, afrikanischer Herkunft sind.
Diarra: Ja, weil viele Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern es gar nicht bis nach Europa schaffen. Stattdessen stranden sie in anderen afrikanischen Staaten wie Algerien. Viele wollen auch gar nicht unbedingt nach Europa - aber das Interesse, nach Europa zu gelangen, gibt es nach wie vor. Dort werden die meisten als Illegale behandelt und einfach zurückgeschickt. Wo bleiben da die Menschenrechte?
ZEIT ONLINE: Wen sehen Sie denn mehr in der Verantwortung - die afrikanischen Staaten, deren Regime teilweise ja selbst Fluchtursache sind, oder die Europäer?
Diarra: Prinzipiell beide. Die EU will die afrikanischen Staaten anstiften, bei ihrer Politik der geschlossenen Grenzen mitzumachen. Sie will afrikanische Flüchtlinge schneller und effektiver abschieben; dafür will sie sie mit Geld belohnen. Ein solches Abkommen würde einen regelrechten Krieg gegen die Flüchtlinge bedeuten. Wir fordern von der malischen Regierung und auch von allen anderen Staaten der Afrikanischen Union, einer solchen Einigung mit der EU nicht zuzustimmen, die sie zum Erfüllungsgehilfen von Frontex macht. Wenn überhaupt, dann sollte Europa Afrikas Partner sein. Es braucht mehr Solidarität zwischen beiden Kontinenten, wenn es denn klappen soll mit der Bekämpfung der Fluchtursachen.
Präsident der Malischen Vereinigung der Abgeschobenen (Association Malienne des Expulsés - AME). Die Organisation in Bamako bietet Unterstützung und psychosoziale Hilfe für Menschen, die aus Europa in ihre Heimat zurückgeschickt wurden. AME engagiert sich auch in generellen Fragen der Flüchtlingshilfe.
ZEIT ONLINE: Ein wichtiger Faktor dabei ist die schwache Wirtschaft vieler afrikanischer Länder. Wie müsste Europa in Zukunft mit Afrika Handel treiben, damit weniger Menschen einen Grund haben, zu fliehen?
Diarra: Ich zeige das am Beispiel Malis auf. Wir leben hier vor allem von drei Wirtschaftszweigen: Fischerei, Baumwollernte und Landwirtschaft. Normalerweise müssten die europäischen Industriestaaten den Bauern vor Ort helfen, von ihrer Baumwollernte zu leben. Aber sie kaufen die Ware so billig, dass viele junge Malier in der traditionellen Wirtschaft ihres Landes keine Zukunft mehr sehen und abwandern. Die Unternehmen verkaufen die Produkte in Europa dann aber teuer. Wie kann es da so eine Differenz geben? Genauso müssen die großen Fischereikonzerne einen anderen Umgang mit den Ländern wie Mali pflegen. Die Aufgabe der Politik ist es, diese Interessen miteinander in Einklang zu bringen, Norden und Süden zu harmonisieren. Aber das passiert nicht.
ZEIT ONLINE: Warum?
Diarra: Das ist kompliziert. Solche Fragen sind auch mit den afrikanischen Staaten nicht einfach zu regeln. Der Dienstleistungssektor, die Behörden, der soziale Sektor - all das muss in vielen afrikanischen Ländern besser laufen. Solange all das dermaßen unterentwickelt ist, werden die Menschen abwandern.
ZEIT ONLINE: Das milliardenschwere Entwicklungspaket, das in Malta beschlossen werden soll, könnte doch zumindest in diesem Punkt Abhilfe schaffen.
Diarra: Nein, denn es ist viel komplizierter. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Mali: Der Krieg, der hier Anfang 2012 ausgebrochen ist, mag nur in bestimmten Gebieten des Landes toben, aber er bringt Chaos weit über seine eigentlichen Gebiete hinaus. Welche Entwicklungshilfe soll denn greifen, wenn sich unterschiedliche Interessensgruppen gegenseitig umbringen?
ZEIT ONLINE: Sie fordern stattdessen einen kompletten Schuldenschnitt für die hochverschuldeten afrikanischen Länder. Inwiefern wäre das eine bessere Alternative?
Diarra: Die Armutsspirale in bestimmten Ländern dreht sich schon so lange, dass sie aus eigener Kraft kaum die Chance haben, ihre Entwicklung voranzutreiben. Durch Staatsschulden wird das noch verstärkt. Würde man sie ihnen erlassen, könnten sie Armut langfristiger bekämpfen als mit sporadischen Finanzhilfen, bei denen zudem nicht gesichert ist, dass sie an sinnvollen Orten ankommen. Ohne Schulden könnte unser Kontinent sich besser entwickeln, und es wäre auch ein wichtiger Schritt für die junge Generation. Irgendwann müssen die Menschen dann vielleicht nicht mehr auswandern.
ZEIT ONLINE: Noch tun sie es aber. Viele dürfen allerdings in Europa nicht bleiben. Ihr Verein engagiert sich für Menschen, denen bereits einmal die Flucht nach Europa gelang, die dann aber wieder nach Mali abgeschoben wurden. Weshalb ist das so wichtig?
Diarra: Es kommen jeden Tag Malier aus Europa zurück. Was sie hier erleben, ist oft noch schlimmer als die Zeit auf der Flucht. Die meisten fliehen ja aus wirtschaftlichen Gründen und geben ihr letztes Geld für die Flucht aus. Wenn sie dann zurückkommen, haben sie nichts mehr, vor allem aber keine Zuversicht. Außerdem werden sie von der Gesellschaft nicht mehr gut behandelt, niemand gibt ihnen noch eine Chance. Wir bieten ihnen Unterstützung dabei, sich wieder ein Leben aufzubauen. Sie brauchen Papiere, soziale Strukturen, oft auch psychosoziale Hilfe. Und die Nachfrage bleibt: Demnächst feiern wir unser 20-jähriges Bestehen.
ZEIT ONLINE: Es gibt ja aber viele, die es trotzdem immer wieder versuchen mit der Flucht nach Europa.
Diarra: Ja, aber unter den derzeitigen Bedingungen ist das die schlechtere Entscheidung. Solange die Menschen in Europa nicht ohne Weiteres leben und vor allem arbeiten dürfen, haben sie auch dort keine Zukunft, das sage ich immer wieder. Deshalb fordern wir auch, dass die EU-Mitgliedsstaaten die UN-Wanderarbeiterkonvention für Auswanderer und ihre Familien unterzeichnen, um afrikanischen Migranten eine legale Chance zu eröffnen. Es gab zwar schon bilaterale Mobilitätsabkommen, zum Beispiel vor einigen Jahren mit Spanien. Damals sollten 800 Malier nach Spanien kommen und legal dort arbeiten – aber am Ende wurden es nur 29, dann machte Spanien dicht. So funktioniert das nicht.
ZEIT ONLINE: Was hat sich mit der Syrien-Krise für die Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern verändert? Fühlen sie sich benachteiligt?
Diarra: Ja, denn für die anderen stellt sich
die Frage der Legalität ja viel weniger. Wer aus Syrien flieht, hat in
Europa sehr gute Chancen. Aber für Afrikaner bleiben viele Türen
verschlossen – zu Unrecht. Schließlich gibt es auch afrikanische
Staaten, aus denen die Leute vor Krieg fliehen: Burundi, Somalia und mit
steigender Präsenz von Boko Haram auch Länder wie Nigeria. Auch dort
wurden und werden Menschen umgebracht.
ZEIT ONLINE: Es klingt, als hätten Sie weitgehend die Hoffnung verloren, dass es zu einer Einigung kommen könnte, die den Menschen in Afrika dient.
Diarra: Was die EU angeht, ist das schon so, in der Tat. Die Hoffnung, die uns Afrikanern noch bleibt, setzen wir in die Afrikanische Union. Aus Europa kam in den vergangenen Jahren kaum Neues. Es ist jetzt an Afrika, dem etwas entgegenzusetzen – auch, wenn uns nur kleine Schritte möglich sind. Wenn mehr junge Leute eine bessere Ausbildung und größere Chancen auf eine Arbeit hätten, hätten wir schon ein Problem weniger.Original