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Jeder Kilometer am Westweg zählt

279 Kilometer, 9000 Höhenmeter, einmal quer durch den Schwarzwald. Zur Belohnung gibt es Bratwursttipps, Weidfelder und den richtigen Flow.


KILOMETER 1 Der Anfang der Wanderung ist denkbar leicht: Vom Pforzheimer Hauptbahnhof, einer Schönheit aus den 50er Jahren mit lichtdurchfluteter Empfangshalle und wuchtigem Wandrelief, geht es leicht bergab in die Stadt.

Die Wanderkleidung? Noch sauber, als würde man Modell für einen Outdoor-Katalog stehen. Der Schritt? Federnd und energisch. Die Kondition? Blendend.

Der Schwarzwald liegt vor einem, aber vor allem in dichten Wolken, aus denen einzelne Tropfen fallen. Zwei, drei Kilometer geht es durch die schläfrige Stadt. Als Berliner fällt einem auf, wie sauber alles ist! Keine Schmierereien, kein Müll auf der Straße.

Es geht an einem Bach entlang, zuerst in Beton eingefasst, bis langsam die Natur beginnt. „Pforte zum Schwarzwald" steht über dem Wegweiser für den Westweg, Deutschlands ältestem Fernwanderweg. Er zeigt 279 Kilometer bis Basel an, das ist die offizielle Zahl.

Mit gelegentlichen Auf- und Abstiegen zu den Unterkünften und beabsichtigten wie unbeabsichtigten Umwegen werden es nach zwölf Tagen, so sagt's die Wander-App, etwa 300 sein. Der Weg wird nun zum Pfad. Er springt auf und ab, schlägt Haken, ab und an stellt sich ein kleiner Fels in den Weg.

KILOMETER 37 Plötzlich ist man in der Wildnis. Der Nordschwarzwald möchte sich mit der fernsehfilmhaften Süße, die man mit Deutschlands größtem Mittelgebirge verbindet, nicht gemeinmachen. Stattdessen führt der Weg durch den Kaltenbronn, das größte Hochmoorgebiet der Region.

Der Nebel hängt in den Bäumen, was deren Grün intensiver macht. Mit jedem Schritt verändert es sich, mal satt, mal beinahe schwarz. Bald verläuft der Weg auf Bohlen, zwischen gelben Schilfgräsern und dunklen Tümpeln, die an Augen erinnern.

Am Wegrand blühen Goldrute und Alpkraut, nur einmal reißt die Wolkendecke auf. Im Westen sieht man das Rheintal und als dunkle Schatten die Berge der Vogesen.

KILOMETER 52 Mehr als 50 Kilometer in zwei Tagen, dazu 1300 Höhenmeter, und - besonders fordernd - ein Abstieg von 500 Metern: Wer in Forbach angekommen ist, kämpft mit großer Wahrscheinlichkeit gegen einen Muskelkater und zwei, drei Fußblasen.

Die örtliche Apotheke ist auf derlei Probleme eingestellt. Also Latschenkiefersalbe und Blasenpflaster drauf, Zeit zum Wundenlecken bleibt nicht. Die dritte Etappe ist die erste, auf der der Schwarzwald zeigt, was er von seinen Wanderern erwartet.

Es geht sofort steil bergan, auf einer Strecke von sechs Kilometern wollen 600 Höhenmeter überwunden werden. Der Muskelkater macht sich bei jedem Schritt bemerkbar. Aber man ist nicht allein.

Aus Einzelwanderern wird ein Ensemble, das sich immer neu formiert. Julius aus Stuttgart, Informatiker bei einer großen Maschinenbaufirma. Jean-Pierre aus Martinique, der einen Teil der Strecke mit dem Rennrad zurücklegt, seine Frau transportiert es im Materialwagen.

Und der ältere Herr, der einem zweimal entgegenkommt: „Wie haben Sie das denn gemacht?" Er lacht nur. „Kennen Sie die Geschichte vom Hasen und vom Igel? Sie sind der Hase."

KILOMETER 116 Am „Hark" herrscht Postkartenidylle. Das Gehöft liegt zwischen steilen Kuppen, auf denen Kühe weiden. Sie sorgen mit ihren Glocken für den Soundtrack, der ab hier die Wanderung prägt. Der Muskelkater ist verschwunden. Das Wandern wird zum Gang auf Wolken.

Knapp vor der Halbzeit stellt sich das ein, was auch einen Wikipedia-Eintrag besitzt: der Flow, in dem man laut Glücksforscher Miháli Csíkszentmihály „aufgeht und darin seinen freien Ausdruck findet".

In die Praxis übersetzt: Fuß vor Fuß, alle fünf, sechs Kilometer eine Pause. Kräftige Schlucke aus der Wasserflasche. Ein Müsliriegel. Ein freundliches „Grüßgott" den Entgegenkommenden.

Beim Checken der GPS-Daten in der App - man braucht sie nicht, die rote Raute, die die Route markiert, hängt alle paar 100 Meter am Baum - bemerkt man: Handyempfang gibt's nicht. Wieso auch, denkt man sich. Nichts kann wichtiger sein als jetzt genau diese Waldwege entlangzugehen. Also weiter, Fuß vor Fuß. Herrlich.

KILOMETER 153 „Ich fahr' Sie schnell hoch!", sagt die Wirtin vom „Rebstock", dem Hotel im Kurort Schonach. Hoch bedeutet: zur Wilhelmshöhe, wo offiziell die siebte Etappe endet und die achte beginnt. Zwei Kilometer und 100 Höhenmeter spart man sich so. Legitim, aber nach all dem Marschieren fühlt es sich eigenartig an, chauffiert zu werden.

Die Wirtin, eine resolute Endvierzigerin, kommt ins Plaudern. Sie könne nicht klagen, erzählt sie, während sie vor einer Steigung schwungvoll in den zweiten Gang runterschaltet und einen Traktor überholt.


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