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Sigmar Gabriel zwischen Vorbild und Vollidiot

SPD-Chef Sigmar Gabriel nahm 2012 für Töchterchen Marie Elternzeit, führte Interviews unter anderem von Zuhause aus per Twitter. Der Superminister widmet seinem Kind einen Nachmittag pro Woche - und löst damit eine Debatte aus.

Seit Sigmar Gabriel ankündigte, die Mittwochnachmittage seiner Tochter zu widmen, hagelt es Kritik. Was soll die Aufregung? Einfach mal den Papi in die Kita lassen, findet Jessica Wagener.


"Einen Teilzeitminister darf es nicht geben", wettert "Die Welt" über Sigmar Gabriels Ansage, seine knapp zweijährige Tochter Marie an einem Nachmittag pro Woche aus der Kita abzuholen und begründet das mit der Relevanz der Aufgabe: "Wer eine Ausnahme-Karriere anstrebt, ob nun in der Politik, in der Wirtschaft oder beim Profisport, sollte wissen, dass dies nur mit 100 Prozent Einsatz funktioniert." Kein Amt vereine Macht und persönliches Engagement so, wie das eines Bundesministers.


Aber bedeutet ein freier Nachmittag pro Woche wirklich, dass der Vizekanzler seine Verantwortung nicht mehr vollständig wahrnimmt? Unwahrscheinlich, dass der SPD-Chef mittwochs sein Handy ausschaltet, auf wichtige Krisentreffen für ein Vater-Tochter-Date in der Sandkiste verzichtet oder wenn nötig nicht für seine verletzte Chefin einspringt. Auch kann beim grundsätzlichen Arbeitsvolumen eines Ministers mit einem freien Nachmittag wohl schwerlich von echter Teilzeit die Rede sein.


In Deutschland keine Selbstverständlichkeit

Mangelnder Einsatz fürs Amt ist lange nicht die einzige Kritik an Gabriels Plänen, aber wohl die reaktionärste. Seit der Vizekanzler und Superminister für Wirtschaft und Energie der "Bild"-Zeitung sagte: "Meine Frau ist berufstätig und mittwochs bin ich mit dem Abholen aus der Kita dran", überschlagen sich die Reaktionen. Die einen rufen enthusiasmiert das Zeitalter der neuen Väter, die sich dem Nachwuchs widmen, aus. Andere spotten, vornehmlich in sozialen Netzwerken, über eine fadenscheinige PR-Aktion - ein Nachmittag sei lächerlich wenig, wenn es um Kinderbetreuung gehe.


Für die einen zu viel, für die anderen zu wenig, dazwischen eine hitzige Debatte und die Frage: Warum verkündet Sigmar Gabriel eine Selbstverständlichkeit in der Presse und geht nicht einfach so mittwochs in die Kita? Schließlich macht er das schon seit rund einem Jahr.


Weil die Tatsache, dass sich ein Vater in Führungsposition regelmäßig einen Nachmittag für sein Kind frei nimmt, in Deutschland eben keine Selbstverständlichkeit ist.


Zwar ist die Zahl der Papas, die hierzulande Elterngeld in Anspruch nehmen, in den letzten Jahren weiter gestiegen, liegt aber nach Angaben des statistischen Bundesamtes nur bei gut 27 Prozent - von den Müttern bleiben 95 Prozent Zuhause. Sogar der britische Guardian greift das Thema auf und schreibt: "Deutschland hat noch immer den Ruf eines Landes, in dem Mütter entweder Hausfrauen oder Rabenmütter sind (...) Aber nach der jüngsten Umstrukturierung an der Spitze der deutschen Politik zu urteilen, könnte Gabriels Ankündigung ein Signal für eine Verschiebung in der Einstellung zur Elternschaft sein."


Wir haben noch einen langen Weg vor uns

Und genau das ist der Ansatz. Die bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie ist nämlich im Koalitionsvertrag festgeschrieben und ein wichtiges SPD-Thema. Mit seiner Ansage springt Gabriel zudem Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bei, die sich unlängst mit ihrer Forderung "Mit dem Anwesenheitswahn muss Schluss sein, denn Familien brauchen Zeit" bei Arbeitgebern eine blutige Nase geholt hatte.


Sigmar Gabriel ist natürlich auch nicht der einzige Mensch mit großer beruflicher Verantwortung, der den Spagat zwischen Beruf und Familie umzusetzen versucht, auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will ihren Dienstsitz teilweise nach Hause verlegen. Und Jörg Asmussen hat seinen Job im Führungsgremium der Europäischen Zentralbank gegen den deutlich schlechter bezahlten Posten als Staatssekretär im Arbeitsministerium eingetauscht - um mehr Zeit für seine Familie zu haben. "Mir ist das total wurscht, ob mich andere für ein Vorbild oder einen Vollidioten halten."


Wenn die Vereinbarkeit von Kind und Karriere auch für Papas selbstverständlich wird, dann heißt es weder Vollidiot noch Vorbild. Sondern einfach Vater.

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