Viele Landwirte klagen dieses Jahr über eine schlechte Ernte. Es war heiß und zu trocken. Das Bundeskabinett hat entschieden, die Landwirte ergänzend zu Länderprogrammen mit 150 bis 170 Millionen Euro zu unterstützen - zusammen mit den Ländergeldern soll es so Finanzhilfen in Höhe von 340 Millionen Euro geben. Der Bauernverband hatte zuvor eine Milliarde Euro an Hilfen gefordert. Ministerin Julia Klöckner (CDU) hatte betont, sie brauche erst eine valide Datenbasis, bevor Geld fließt. Und das ist für sie die amtliche Erntebilanz. Eine Reportage von NDR Info zeigt, wie die entsteht - vom Feld in Niedersachsen bis in die Hauptstadt.
Mit großen Schritten läuft Matthias Rode über ein Gerstenfeld im Landkreis Hameln-Pyrmont. Die Halme rascheln, wenn seine Hosenbeine sie streifen. Rode zählt bis sieben, dann stoppt er an der ersten Probestelle mitten im Feld. Er legt einen viereckigen Rahmen aus Metall in die Halme und misst so einen Quadratmeter ab. Damit alles ganz korrekt ist, knickt er ein paar Halme zur Seite. Dann setzt er das scharfe Messer an. Die Büschel von rund 20 Zentimetern Länge steckt er in einen Jutesack. "Wir nehmen alles mit, was in diesem Quadratmeter gewachsen ist. Also auch andere Pflanzen wie Unkraut."
Diese Prozedur wiederholt Rode noch vier Mal. Er läuft einmal quer übers Feld, nach einem vorgeschriebenen Muster. "Das hat den Grund, dass wir uns nicht die guten und schlechten Stellen aussuchen." Alles soll repräsentativ und objektiv sein. Nach rund einer Stunde hat er den Probeschnitt von fünf Quadratmetern in seinem großen Jutesack verstaut. Insgesamt gibt es 50 Kommissionen in Niedersachsen mit je zwei Vertretern, die für das statistische Landesamt auf die Felder fahren und Proben nehmen.
Probeschnitt wird gedroschen
Den Sack mit dem Probeschnitt bringt Rode auf einen nahegelegenen Hof bei Hameln zum Dreschen. Die Gerstenhalme verschwinden ratternd in einer großen roten Standdreschmaschine. Kleine hellbraune Körner fallen am anderen Ende aus einer kleinen Öffnung in einen schwarzen Eimer. Die Ernte von fünf Quadratmetern. Hier auf dem Hof bei Hameln werden alle Probeschnitte einzeln gedroschen. Insgesamt sind das dieses Jahr 1.020 Säcke Getreide.
"Feuchte Körner wiegen mehr als trockene"
Aus dem großen Jutesack mit Heu und Halmen ist jetzt ein kleiner Leinensack mit Körnern geworden. Diese Körnerprobe geht nun zur LUFA, der Landwirtschaftlichen Forschungs- und Untersuchungsanstalt in Hameln. Dort schaufelt Birte Vatbois die Körner in einen kleinen Kasten, der die Feuchtigkeit bestimmt. "Das dauert jetzt einen kleinen Moment." Der Apparat rattert, die Körner fallen in eine kleine Schublade.
Auf dem Display erscheint das Ergebnis: 13,4 Prozent Feuchtigkeit, 4,4 Kilo Gewicht. Die Feuchtigkeit wird bestimmt, damit die Ergebnisse vergleichbar sind. Feuchte Körner wiegen mehr als trockene. Die Ergebnisse mailt Vatbois täglich ans Landesamt für Statistik in Niedersachsen. Die wiederum melden ihre Zahlen an das Statistische Bundesamt. Wie auch alle anderen Bundesländer. Und die reichen die gesammelten Werte ans Bundesministerium für Landwirtschaft und damit an Julia Klöckner weiter, die so die Amtliche Ernte-Statistik für Deutschland vorstellen kann.
Felder werden zufällig ausgewählt
Doch wie groß ist die Aussagekraft der Statistik für den einzelnen Landwirt? Georg Keckl vom Landesamt für Statistik in Niedersachsen: "Wenn man so Durchschnittserträge sagt, dann hat man sofort Protest - nach dem Motto 'Bei uns ist es aber viel schlechter.' Wir haben 20 Prozent weniger beim Getreide, aber es verteilt sich eben verschieden auf die Regionen."
Im Osten war es trockener. Im Süden und Westen von Niedersachsen hat es häufiger geregnet. Die Auswahl der Felder sei Zufall, erklärt Keckl, der schon seit über 30 Jahren für die "Besondere Ernte-Ermittlung" zuständig ist. "Man muss sich das so vorstellen: Wir machen aus 400.000 Hektar Weizen 400.000 kleine Kügelchen. Der Computer fischt 200 Kügelchen raus. Und auf jedem Kügelchen steht drauf, zu wem dieser Hektar gehört. Und den Landwirt schreiben wir dann an und teilen ihm mit, dass wir von diesem Feld dieses Jahr eine Probe nehmen."
Ausgewählte Landwirte müssen mitmachen
Wird ein Landwirt ausgewählt, muss er mitmachen. Er hat keine Wahl. In Niedersachsen werden in diesem Jahr rund 1.000 Felder beprobt. In Mecklenburg Vorpommern rund 500 und in Schleswig-Holstein rund 700, so die Landesstatistikämter. Deutschlandweit sind es rund 10.000 Flächen.
Georg Keckl vom Landesamt für Statistik in Niedersachsen erklärt, dass das nicht viel von der landwirtschaftlichen Fläche Deutschlands abdeckt. "Das ist im Promille-Bereich, weil wir da nur Stichproben machen. Bei den Stichprobenverfahren kommt es aber nicht unbedingt auf eine große Menge an, die man misst, sondern auf den Zufallsfaktor. Und dass man es jedes Jahr gleich macht."
Die Stichproben werden hochgerechnet - repräsentativ für jede Feldfrucht. Also für Gerste, Weizen, Roggen, Hafer und Raps. Dazu kommen noch ein paar Volldrusche: Der Landwirt erntet dafür das komplette Feld ab und wiegt die ganze Ernte. Das macht die Ergebnisse der Stichprobe noch mal genauer.
Nicht nur die Ernte-Menge ist entscheidend
Die Erntemenge allein sagt jedoch nicht viel über die wirtschaftliche Situation eines Betriebs aus, kritisieren viele Agrarökonomen wie Heiko Hansen vom Braunschweiger Thünen-Institut. "Auch die Preisentwicklung ist entscheidend für den einzelnen Landwirt, und die Preise sind dieses Jahr für viele Feldfrüchte gestiegen, was Verluste ausgleicht."
Zudem müsse die Kostenseite betrachtet werden. So sei für die Trocknung dieses Jahr aufgrund der Dürre weniger angefallen. "Und schließlich hängt das Einkommen eines landwirtschaftlichen Haushaltes auch davon ab, ob andere Einkommensquellen wie Photovoltaik und Ferienwohnungen vorhanden sind", betont Hansen. Die wirtschaftliche Lage und Aussagen zur wirtschaftlichen Bedürftigkeit in der Landwirtschaft könnten also nicht allein von der Erntemenge abgeleitet werden.
Mit einem blauen Auge davongekommen?
Der Agrarökonom Friedhelm Taube von der Universität Kiel fasst es so zusammen: "Im Ergebnis stellt sich das so dar, dass in Norddeutschland zumindest die klassischen Ackerbaubetriebe mit einem blauen Auge davonkommen werden, teilweise sogar überhaupt keine finanziellen Einbußen haben werden." Für das Ergebnis der amtlichen Erntestatistik ist das jedoch egal. Da spielt nur die Erntemenge eine Rolle.
Bundeslandwirtschaftsministerin Klöckner hat mehrfach deutlich gemacht, dass sie die amtliche Erntebilanz abwarten will, bevor sie über finanzielle Hilfen für die Landwirte entscheidet. Dafür müsste den Landwirten ein Schaden von mindestens 30 Prozent ihrer Ernte entstanden sein. Dann könne dieser Dürresommer als ein "Ereignis von nationalem Ausmaß" eingestuft werden. Zuletzt war dies 2003 wegen einer Dürre der Fall. Der Bund und mehrere Länder stellten damals 72 Millionen Euro bereit.
Hier geht's zum Artikel und dem Hörfunk-Bericht:
https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Eine-Milliarde-Euro-um-Ernte-zu-retten,ernte570.html