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Sinnlos reisen

Bart, Jakob und David (v. l. n. r.) auf ihrer Reise. © Drei von Sinnen

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen: So gehandicapt reisen drei Freunde durch Europa. Es wird ein Selbsterfahrungstrip, der ihre Freundschaft auf die Probe stellt.


Jakob liegt blind auf einer Isomatte, darunter der nasse Waldboden. "Das regt mich abartig auf!", ruft er. Seit fünf Tagen sind seine Augen mit lichtundurchlässigen Pflastern zugeklebt. Ununterbrochen. Vom Laufen ohne Orientierung ist ihm übel. Trotzdem hat er Hunger. Ohne etwas zu sehen, kann sich Jakob nicht selbst etwas kochen, ist von seinen Freunden abhängig. "Macht endlich die Scheiß-Ravioli heiß!"

Das Problem: Sein Freund David kann ihn nicht hören. Er trägt große Kopfhörer, die ein permanentes Rauschen erzeugen. Bart, der dritte in der Runde, hört zwar Jakobs Frust, darf aber nichts sagen. Er formt seine Finger zu Buchstaben, muss dem gehörlosen David per Zeichensprache mitteilen, was das Problem ist. So vergeht Zeit. Die Ravioli sind immer noch nicht im Topf und Jakob wird immer ungeduldiger.

David, Bart und Jakob sind drei Freunde um die dreißig. Im Sommer 2014 sind sie gemeinsam zu einer Reise aufgebrochen, vom Bodensee zur französischen Atlantikküste, zu Fuß, per Anhalter, mit dem Zug. Einer durfte nicht sehen, der andere nicht sprechen, der Dritte nicht hören. Jede Woche tauschten sie reihum ihre Handicaps und damit auch ihre Rollen. Aus dem Selbsterfahrungstrip wurde der Dokumentarfilm Drei von Sinnen.

Zum Start des Films erklären die drei, warum sie sich dem anstrengenden Psychoexperiment ausgesetzt haben, das beinahe ihre Freundschaft gekostet hätte. "Wir wollten herausfinden, was die eingeschränkte Wahrnehmung mit uns macht", sagt David, der im Film am unkompliziertesten wirkt. "Wie gehe ich damit um, auf andere angewiesen zu sein? Zu helfen, obwohl ich selbst Hilfe brauche?" Den Freunden sei klar gewesen, dass so eine Extremsituation auch ihre Beziehung belasten würde. Es war auch ein Freundschaftstest.


Wie die drei japanischen Affen

Vorbild für die Reise waren die drei Affen, die es auch als Emojis gibt. Jeweils eines hält sich die Augen, Ohren oder den Mund zu. Das Trio geht auf ein Sprichwort aus Japan zurück, das sich sinngemäß übersetzt darum dreht: dass man Schlechtes manchmal einfach ignorieren sollte. Wer sich den Dokumentarfilm ansieht, merkt schnell, dass die Freunde genau dabei Probleme hatten: Wegen Missverständnissen kommt es immer wieder zum Streit, den sie wegen ihrer Handicaps nie richtig austragen können. Oft geht es ums Essen.

"Weil ich nicht sehen konnte, wie viel auf dem Teller lag, war ich nie richtig satt", erklärt Jakob. Mit wachsendem Hunger wurde eine Frage immer lauter: "Kriege ich wirklich meinen Anteil?" Bart und David wiederum konnten Jakobs Problem nicht nachvollziehen. Schließlich haben sie ihm immer die größte Portion gegeben. "Jakobs launische Art hat mir oft sehr zugesetzt", sagt Bart. "Erst, als wir die Rollen getauscht hatten und ich nicht sehen konnte, habe ich Jakob verstanden. In kompletter Dunkelheit vergeht die Zeit viel langsamer. Auch für mich hat sich die Zeit zwischen den Mahlzeiten ewig angefühlt."

David hatte vor allem Probleme mit der Gehörlosigkeit. "Die anderen haben nicht immer Lust, alles für dich aufzuschreiben. So findet eine Isolierung statt. Ich wusste zwar, ich bin mit zwei Freunden unterwegs. Aber ich habe mich trotzdem sehr einsam gefühlt." Das kann man im Film sehen. Nach der ersten Woche sitzen die drei auf einer Wiese an einem See. Als David endlich die Kopfhörer abnehmen darf, weint er vor Erleichterung. "Es hatte sich so viel angestaut", sagt er, "Missverständnisse, Spannungen, Hilflosigkeit. Plötzlich war alles Unausgesprochene geklärt."

Auch viele wirklich Blinde, Stumme und Gehörlose würden gerne ihre Handicaps ablegen. Verhöhnen die drei mit ihrem Experiment Menschen mit körperlichen Einschränkungen? "Wir wollten uns nicht hinstellen und sagen: So ist es, blind, taub und stumm zu sein, das wäre anmaßend", sagt David. Ihnen sei es allein um die Selbsterfahrung gegangen. Bart sagt: "Sneakers kaufen ohne zu sprechen, U-Bahn fahren ohne zu sehen - mir ist bewusst geworden, welche Herausforderungen Menschen mit Behinderung im Alltag zu bewältigen haben. Dass unsere Sinne ein Geschenk sind, ist mir erst jetzt richtig klar."


Empathie durch Rollentausch

Trotz aller Schwierigkeiten haben sie in den drei Wochen Orientierungslosigkeit aber auch viel gelernt, da sind sich die Freunde einig. Am Ende hätte die Kommunikation besser funktioniert. Zum einen, weil jetzt jeder wusste, was der andere braucht. Zum anderen, weil sie nicht mehr versucht haben, alles zu klären. Die Tage liefen entschleunigt ab. "Unser Alltag ist durch die sozialen Medien so schnelllebig geworden. Wir mussten erst mal annehmen, dass es langsamer geht", sagt David.

Im Film sieht man, wie der gehörlose Bart den blinden David am Arm hält, ihn eine grüne Wiese entlangführt. "Es reichte nicht, zu sagen, wir sind auf dem Jakobsweg und es ist toll hier", erzählt Bart. "Ich musste David jedes Detail beschreiben: die Steine, die Wolken. Auf diese Weise wurde mir wieder bewusst, wie schön Kleinigkeiten sind."

Nicht zu sehen, fiel allen drei am schwersten. Es sei aber auch die prägendste Erfahrung gewesen, sagen die Freunde. Hört man nur die Stimme seines Gegenübers, kann man ihn nicht anhand von Äußerlichkeiten beurteilen. "Ich habe mir alle Menschen schön vorgestellt", sagt David. Bart stimmt ihm zu. "In Lyon habe ich Margaux getroffen. Es war aufregend und spannend eine Frau kennenzulernen, die man nicht sieht. Die eigene Phantasie zeichnet zu jeder Stimme ein Gesicht. Auch jetzt, wo ich weiß, wie diese Menschen wirklich aussehen, existieren immer noch beide Gesichter in meinem Kopf."

Auf der Reise hat jeder sich selbst und auch die anderen neu kennengelernt. Heute sind die drei wieder zu Hause in Deutschland, arbeiten, studieren. Was der Trip mit ihrer Freundschaft gemacht hat? Das sieht jeder unterschiedlich. David fühlt sich mit den anderen mehr verbunden als vorher. Bart und Jakob, die sich auf der Reise immer wieder gestritten haben, sind heute nicht mehr so eng befreundet. "Die Reise hat uns physisch und psychisch an unsere Grenzen gebracht", sagt Bart. "Wir haben Seiten von uns gezeigt, die sonst verborgen bleiben. Aber eine wahre Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, den anderen dennoch zu schätzen."


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