tagesschau.de: Wie ist momentan die Lage in Charkiw?
Julia Bidenko: Ich bin jetzt nicht in der Stadt, aber meine Mutter ist weiterhin im Zentrum. Da sowohl Telefonleitungen als auch Internet funktionieren, bin ich mit ihr, lokalen Journalisten und Freiwilligen ständig in Kontakt. Charkiw wird seit dem ersten Kriegstag beschossen, auch wenn die vergangene Nacht relativ ruhig war. Viele Menschen haben mit dem Zug die Stadt verlassen oder in Bunkern Schutz gesucht. Und auch mit der Lebensmittelversorgung gibt es Probleme.
tagesschau.de: Bilder von Fotojournalisten zeigten in den vergangenen Tagen lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften und Apotheken. Ist das ein Massenphänomen?
Bidenko: Es können gar nicht alle Menschen bis zum Supermarkt gehen: Die Regierung hat Zivilisten angewiesen, angesichts des Beschusses in ihren Häusern zu bleiben. Nicht alle Lebensmittelgeschäfte sind geöffnet, einige öffnen nur vormittags für wenige Stunden. Meine Mutter ist 68 Jahre alt und kann sich nicht einfach in die Schlange stellen. Die meisten Leute haben noch Grundnahrungsmittel zu Hause, aber Brot gibt es kaum noch - und auch kein Mehl, um welches zu backen.
tagesschau.de: Ist Hilfe unterwegs?
Bidenko: Bislang sehe ich keinerlei internationale Organisationen in der Stadt, die in der Versorgungskrise helfen - einzig das Rote Kreuz, aber sie haben sich bislang auf die medizinische Unterstützung konzentriert. Ich versuche gerade, eine Versorgung aus Poltawa (Etwa 150 km südwestlich von Charkiw, Anmerkung der Redaktion) zu organisieren, das momentan noch sicher ist. Dafür habe ich Geschäftsleute, Bäckereien und freiwillige Helfer zusammengebracht. Freiwillige haben jetzt zwei Busse mit Brot beladen und sich von dort auf den Weg nach Charkiw gemacht. Andere Freiwillige aus Charkiw, die sich bewaffnet haben, wollen die Fahrzeuge dann übernehmen. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem Bedarf, der momentan besteht.
tagesschau.de: Fehlt es noch an anderen Gütern?
Bidenko: Treibstoff. Auch wer ein Auto hat, kommt momentan nicht vom Fleck. Das macht die Logistik für die Verteilung von Gütern schwieriger. Und in unserer 1,5 Millionen-Stadt fährt die Metro nicht mehr, seit sie in einen Bunker umgewidmet wurde. Ich vermute, dass etwa 50.000 Menschen in U-Bahn-Stationen Schutz gesucht haben - mehr passen dort kaum hinein.
Ihnen geht es in gewisser Weise besser, denn die Stadtverwaltung gibt dort immer wieder Essen aus. Am Stadtrand ist es schwieriger, denn die kleinen Supermärkte sind geschlossen, größere Filialen sind weit weg - und Charkiw wird mit Raketenwerfern von Russland aus und mit Flugzeugen aus der Luft beschossen. Eine Arbeitskollegin vom Lehrstuhl für Politikwissenschaft sitzt mit ihrer siebenjährigen Tochter jetzt zu Hause - und sie haben keine Vorräte.
tagesschau.de: Wie steht es um die medizinische Versorgung?
Bidenko: Regionalkrankenhäuser arbeiten derzeit noch - ich weiß von Krankenpflegern, dass die Mitarbeiter dort versucht haben, nachts im Dunklen zu operieren, um nicht zum Ziel von Beschuss zu werden. Gestern konnten Blutkonserven von Poltawa nach Charkiw gebracht werden, aber unsere Kliniken brauchen dringend mehr Spenderblut und Medikamente. Denn momentan gibt es viele Verwundete in der Stadt; sowohl Zivilisten als auch Soldaten. In den ersten zwei Kriegstagen bildeten sich lange Schlangen vor dem Blutspendezentrum - aber am Freitag wurde es getroffen und beschädigt.
tagesschau.de: Am Wochenende erreichten uns Berichte darüber, dass Charkiw von russischen Truppen besetzt, dann aber von der Ukraine zurückerobert worden sei. Haben Sie einen Überblick über die militärische Lage?
Bidenko: Am Wochenende haben russische Truppen mit Panzern versucht, ins Stadtzentrum vorzudringen - das ukrainische Militär mit Truppen zur Landesverteidigung und die Nationalpolizei haben den Einmarsch aber gemeinsam abgewehrt. Dabei hat die Zivilbevölkerung von Charkiw geholfen. Viele Zivilisten machten Aufnahmen von russischen Soldaten und Fahrzeugen und deren Standorten, die sie an das Militär schickten.
Woltschansk und Kupjansk, zwei Dörfer aus dem Umland, wurden hingegen von russischen Truppen erobert. In einigen Dörfern im Umland von Charkiw haben Zivilisten russische Kolonnen angehalten - die Soldaten wurden gefangen genommen und jetzt gibt es viele Videos, in denen sie sagen: "Ich wusste nicht, dass das kein Manöver ist" oder dass ihnen nicht klar gewesen sei, dass die Bürger Charkiws nicht sehnsüchtig auf sie warten. Bestimmt sind diese Soldaten aber darin geschult, wie sie in solchen Situationen antworten sollen - und sicher auch bereit, alles Mögliche zu sagen, um ihr Leben zu retten.
tagesschau.de: Warum hat sich ausgerechnet in Charkiw die Lage so zugespitzt?
Bidenko: Russland versucht, die Stadt für ihre weiteren militärischen Ziele zu nutzen. In den ersten Kriegstagen haben russische Truppen alle Militärflughäfen der Ukraine bombardiert, aber den Flughafen Charkiw kaum angegriffen. Ich glaube, sie wollen den Flughafen nutzen, um hier zu landen und die Invasion auszuweiten.
Es ist ironisch: Charkiws Bürgermeister Ihor Terechow ist russischsprachig (Wie etwa zwei Drittel der Stadtbevölkerung, Anmerkung der Redaktion) und hat das Gesetz zur Förderung des Ukrainischen im Alltag ziemlich ignoriert. Aber jetzt ist er sehr patriotisch, ist in der Stadt geblieben und bemüht sich, die Wasser- und Fernwärmeversorgung aufrecht zu erhalten.
Als Politikwissenschaftlerin überrascht es mich nicht, dass die ukrainische Gesellschaft sehr eng vernetzt ist - aber auch ich bin überrascht zu sehen, wie jetzt alle zusammen gegen Putin zusammenstehen.
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