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Präsident Selenskyj: Mutmacher auf Sendung

Bildrechte: AP

Der Ex-Komiker Selenskyj wollte als Präsident Frieden in der Ukraine wiederherstellen - und zeigt sich ausgerechnet im Verteidigungskrieg seiner Rolle gewachsen. Vermeintliche Makel kann er zum Vorteil ausspielen.

Ein verwackeltes Selfie-Video entwickelt in der Ukraine gerade mehr Kraft als mancher präsidialer Erlass: "Guten Morgen an alle!", sagt Wolodymyr Selenskyj in die Kamera und ringt sich ein Lächeln ab. Um zu zeigen, dass er sich auch unter russischem Dauerbeschuss nicht in einem Bunker versteckt wie Kremlchef Wladimir Putin während der Corona-Krise, hat er sich vor ein Gebäude in Kyjiw gestellt und sagt mit fester Stimme: "Ukrainer, weil schon so viele Fakes im Umlauf sind, dass ich unsere Armee angewiesen hätte, sich zu ergeben - es ist so: Ich bin hier, wir legen die Waffen nicht nieder, wir werden unsere Verteidigung fortsetzen." Eine moderne Durchhalteparole am dritten Kriegsmorgen - bei vielen Ukrainern scheint sie dem Netzecho nach anzukommen.


Darüber, was Selenskyj sich alles zutraut, wunderten sich schon im Wahlkampf 2018 eher ausländische Beobachter als die Ukrainer selbst: Damals spielte er noch in der Comedyserie "Diener des Volkes" einen Mann, der unverhofft zum Präsidenten wird und in der Politik aufräumt. Sein politisches Programm hielt er bewusst vage - und wurde so zur Projektionsfläche für die Modernisierungshoffnungen vieler Ukrainer. Befürchtungen, ein ukrainischer Möchtegern-Trump zu sein, setzte er im Amt schnelle Anfangserfolge wie einen Gefangenenaustausch und einer Waffenruhe im Donbas entgegen.


Ins Stocken kam die Begeisterung für den 44-Jährigen, der frischen Wind in den oligarchisch-postsowjetisch verkrusteten Strukturen der Ukraine verhieß, spätestens zur Hälfte seiner Amtszeit: Die Schmutzkampagne um eine angebliche Justizbehinderung zugunsten von US-Präsident Bidens Sohn Hunter saß er aus, seine Beteuerungen, nicht vom Oligarchen Ihor Kolomojskyj abhängig zu sein, schienen immer weniger glaubwürdig. Die schleppende Antikorruptionsbekämpfung, personelle Eingriffe in die Justiz, als er 2021 den Obersten Verfassungsrichter entließ - all das ist im Verteidigungskrieg gegen Russland beiseite gerückt. Sein wichtigstes Wahlversprechen, den Frieden in der Ukraine wiederherzustellen, konnte er nicht nur nicht erfüllen, sondern ist nun als Präsident Oberbefehlshaber.


Ausgerechnet dieser Rolle zeigt sich Selenskyj am besten gewachsen. Die Chuzpe, die er schon mit seiner Kandidatur bewies, spielt er auch im Konflikt mit Russland aus: Etwa, als er vergangenes Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz den westlichen Verbündeten ins Gewissen redete, während er gleichzeitig um Beistand bat. Auf die Frage, ob er sich keine Sorgen mache, sein von drei Seiten umstelltes Land für eine Tagung zu verlassen, entgegnete Selenskyj: Er habe sein Frühstück in Kyjiw eingenommen und plane dort auch zu Abend zu essen. Die Ukraine sei unterdessen bei den Sicherheitskräften "in sehr guten Händen".


Nach der russischen Anerkennung der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk wandte Selenskyj sich in einer aufsehenerregenden Rede mit den Worten "Und ab jetzt auf Russisch" an die Bevölkerung Russlands: "Nicht als Präsident, sondern als Bürger der Ukraine", der dort vielen noch mit seinen Comedy-Auftritten in Erinnerung ist. In seiner Muttersprache, für deren Verwendung ihn so mancher ukrainischer Politiker bei der Amtseinführung noch tadelte, appellierte er glaubwürdig an die Gemeinsamkeiten im Nationalstolz beider Staaten: "Man erzählt Ihnen, dass wir Nazis wären - aber kann eine Nation etwa nazistisch sein, nachdem sie mehr als acht Millionen Leben geopfert hat, um den Nazismus zu besiegen? Wie kann ich denn ein Nazi sein? Sagen Sie das mal meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der Infanterie der Roten Armee überlebt hat und als Oberst der unabhängigen Ukraine starb!"


Wie viel von dieser Unerschütterlichkeit wohl geschauspielert ist, lässt ein Kommentar des österreichischen Bundeskanzlers Karl Nehammer erahnen: "Der ukrainische Präsident hat mit den Worten begonnen, er meldet sich aus einem Land, wo er nicht mehr weiß, wie lange es besteht, und er meldet sich als Präsident, ohne zu wissen, wie lange er noch am Leben ist", teilte Nehammer nach einem Gespräch mit. Doch Selenskyj tat weiter, was er am besten kann - und was ihn in der Krise von Putin absetzt: Sich mit den richtigen Beratern umgeben und Zeichen setzen.


In der Nacht nach Nehammers Aussagen nahm Selenskyj zum ersten Mal die Kamera in die Hand - und filmte sich im Selfie-Modus mit dem Fraktionsvorsitzenden seiner Partei "Diener des Volkes", dem Chef des Präsidentenbüros, dem Premierminister und seinem Berater Mychajlo Podoljak. "Wir alle sind in Kyjiww. Wir sind hier, unsere Soldaten sind hier und wir verteidigen unsere Unabhängigkeit", sagte er.

Das über soziale Netzwerke verbreitete Video griffen viele Nutzer und internationale Nachrichtenkanäle auf - und trugen so dazu bei, dem Medienprofi Selenskyj bei seiner Inszenierung als tapferer Feldherr zu helfen. Mit Tweets kann ein Staatschef kein Land am Laufen halten, heißt es seit der Amtszeit von US-Präsident Donald Trump. Ausgerechnet dem als Mini-Trump angetretenen Selenskyj gelingt es nun, seine Rolle als Präsident damit souverän zu spielen.

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