tagesschau.de: Frau Marat, nach dem Rücktritt der kasachischen Regierung gestern Abend twitterten Sie: "Eine entlassene Regierung macht noch keinen tiefgreifenden politischen Wandel." Woraus ergibt sich Ihre Einschätzung?
Erica Marat: Kasachstan hat schon früher Proteste erlebt - und die Reaktion der Regierung lief meist nach dem Muster ab: ein bisschen nachgeben, staatliche Sozialleistungen versprechen und vielleicht ein, zwei Minister entlassen. Mit diesen kosmetischen Reformen kamen sie durch. Diesmal scheint die Entlassung der gesamten Regierung da deutlich weiter zu gehen - aber das entspricht nicht den Forderungen der Demonstrierenden: Sie wollen keinen Regierungswechsel, sondern einen Wandel des politischen Systems - freie Wahlen, Repräsentation in Ämtern und mehr.
tagesschau.de: Wer genau geht in Kasachstans Städten momentan auf die Straßen?
Marat: Es ist ein Zusammenschluss verschiedenster Anliegen, die sich da Bahn brechen und teils auch im Widerspruch zueinander stehen. Das ist aber normal - auch in der Ukraine und in Kirgisistan protestierten einige gegen Korruption, andere gegen das politische System. An den Protesten nehmen größtenteils Männer teil, aber im großstäditschen Raum sind auch Frauen wichtige Akteurinnen, etwa die Gründerinnen der Bürgerrechtsbewegung "Oyan, Qazaqstan!" (auf Deutsch: "Kasachstan, wach auf!", Anmerkung der Redaktion), die von jungen Menschen geprägt ist.
Die Demonstrierenden kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Es begann mit dem Ärger über gestiegene Gaspreise, hat sich aber auf andere Forderungen ausgeweitet: Ein Teil der Proteste kommt aus Gewerkschaften, andere nehmen als Einzelpersonen oder Freundeskreise teil. Das Problem, dass so viele Menschen in Kasachstan verschuldet und zahlungsunfähig sind, betrifft so viele - also beteiligen sich zum Beispiel auch Menschen, die Opfer von Zwangsversteigerungen sind.
tagesschau.de: Inzwischen hat die Protestbewegung in Almaty Zerstörungen angerichtet und auch öffentliche Gebäude gestürmt. Sprechen wir da noch von Demonstrationen - oder schon von einem Aufstand?
Marat: Die Proteste begannen friedlich, sie haben niemanden angegriffen - die Regierungskräfte haben die Eskalation provoziert. Das beobachten wir leider ein ums andere Mal in postsowjetischen Raum und der ganzen Welt: Autokraten denken, dass sie die Demonstrierenden einschüchtern können, indem sie Wasserwerfer, Tränengas und viele Spezialeinheiten einsetzen. Aber tatsächlich, wie in der Konfliktforschung bekannt ist, führt staatlicher Gewalteinsatz in so einer Lage nur zur Eskalation und einem Zuwachs der Proteste. So war es auch in Kasachstan: Man ist gewaltsam gegen die Demonstranten vorgegangen - dadurch geriet die Lage außer Kontrolle und die Leute richten sich jetzt auch physisch gegen die Regierung.
tagesschau.de: Die Unzufriedenheit vieler Menschen mit dem weiterhin bestehenden Einfluss von Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew und der Regierung ist nicht neu. Warum sehen sich gerade jetzt so viele ermutigt, dagegen zu protestieren?
Marat: In diesem Fall waren es die Kundgebungen im Landesteil Mangystau, die auch in der Gesamtgesellschaft Anklag fanden - und alle fanden ihre eigenen Anliegen darin wieder. Es geht nicht nur um Gaspreise, sondern sämtliche wirtschaftliche und politische Beschwerden.
tagesschau.de: Wie lange, denken Sie, könnten diese Proteste andauern?
Marat: Es wird jetzt eine Weile chaotisch bleiben - das wird nicht einfach über Nacht verschwinden. In den kommenden Tagen und Wochen wird es hässlicher und erschreckender werden. Was wir da beobachten, ist ein natürlicher Prozess in den postsowjetischen Staaten: Die einstige Sowjetunion hat Institutionen hinterlassen, die nicht den Menschen dienen, sondern von politischen Regimes als Werkzeug gegen die Menschen geschaffen wurden. Die postsowjetischen Staats- und Regierungschefs haben sie weiter angewandt - bis die Menschen es nicht mehr ertragen konnten.
In offeneren Gesellschaften wie Georgien, der Ukraine und Kirgisistan waren diese Proteste früher zu beobachten, in geschlosseneren Gesellschaften wie Kasachstan und Belarus etwas später. Aber jedes Land, das sich öffnen will, muss diesen Prozess durchlaufen. In der Ukraine sehen wir jetzt eine größere Öffnung des Systems, eine größere Unvorhersehbarkeit - und auch viele ungelöste Probleme. Kasachstan steht jetzt vor einer Gabelung vieler verschiedener Optionen: Es könnte tiefer ins Autoritäre voranschreiten oder es mit einem offeneren System versuchen.
tagesschau.de: Erwarten Sie, dass sich die Proteste zu einem monatelangen Machtkampf zwischen Bürgern und Sicherheitsapparat entwickeln - wie in Belarus?
Marat: In Belarus herrscht ein ganz anderes Maß an Brutalität als momentan in Kasachstan. Es gibt Festnahmen, aber keine Toten - denn die Schwelle zur Gewalt liegt in Kasachstan deutlich höher. Denn die Führung versteht - hoffe ich -: Wenn es Tote gibt, war es das. Dann wird die Menge den Regierungssitz in Nur-Sultan stürmen. Sie wird also verschiedene Strategien ausprobieren - etwa Forderungen oder Personen aus der Protestbewegung teilweise aufnehmen oder tiefgreiferende Systemreformen versprechen. Etwa, dass Führungsfiguren nicht ernannt, sondern gewählt werden, oder eine stärkere Rolle des Parlaments.
tagesschau.de: Ist die Regierung, die sich großteils aus sowjetisch geprägten Machtmenschen und -strukturen zusammensetzt, denn dazu in der Lage?
Marat: Im Moment ist das ein faszinierender Tanz: Es gibt junge Reformer wie Erlan Karin, Vorsitzender des Rats für internationale Beziehungen, der eine fortschrittliche Haltung hat und offen für eine neue Generation ist. Aber wir haben auch Leute wie Präsident Kassym-Schomart Tokajew, der nichts anderes kennt als das sowjetisch-postsowjetische System. Wir werden sehen, wer sich durchsetzt. Es gilt auch die Interessen der Business-Elite zu berücksichtigen, die sicherstellen wollen, dass ihr Zugriff auf Ressourcen in einem veränderten System gewahrt bleibt. Ein Wandel zur Demokratie ginge aber mit mehr Transparenz bei Geschäften einher - daher wäre ein offeneres System nicht in ihrem Interesse. Während wir sprechen, laufen die Grabenkämpfe.
tagesschau.de: Wer dürfte sich auf internationaler Ebene von einem Wandel in Kasachstan betroffen fühlen?
Marat: Ich denke, der Westen würde eine politische Öffnung begrüßen. Aber für Russland wäre das beängstigend - denn zwischen beiden Ländern gibt es große Parallelen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Öl und Gas, ihrem Bruttoinlandsprodukt, ihrer kleptokratischen Eliten. Und, was entscheidend ist: Kasachstan bricht mit dem Axiom, dass es keine große Protestbewegung auf einem dünn besiedelten großen Territorium geben kann - Faktoren, die auch auf Russland zutreffen. Das zeigt dem Kreml: Es ist sehr wohl möglich, den autokratischen Staat herauszufordern.
Für Russland wäre das Best-Case-Szenario dauerhaftes Chaos, unter dem viele Menschen leiden - aber wenn sich Kasachstan tatsächlich öffnet, muss Russland sich ein Narrativ dafür ausdenken, was hier passiert ist. Aus dem Westen bezahlte NGOs als Rädelsführer hinzustellen, funktioniert nicht, so wie die Dinge jetzt sind - der Angang muss also kreativer sein.
China dürften die Proteste gleichgültig sein, solange sie seine wirtschaftlichen Interessen in Kasachstan nicht durchkreuzen. In puncto Protestniederschlagung und Mobilisierung von Einsatzkräften ist China viel besser entwickelt als Russland - Peking dürfte also nicht fürchten, dass die Proteste über die Grenze schwappen. Außerdem ist Kasachstan für die meisten Chinesen im Alltagsleben keine feste Größe - Peking wird sich also mit jeglicher Regierung arrangieren und dann seine Geschäfte mit Kasachstan weiter vorantreiben.
tagesschau.de: Befürchten Sie eine weitere Destabilisierung in Kasachstans Nachbarländern und in der Region Zentralasien, mit der viele schon nach der Taliban-Machtergreifung in Afghanistan rechneten?
Marat: Solche Ängste zu schüren, gehört immer zum Narrativ des Regimes: "Nur wir können Stabilität garantieren. Wenn ihr euch gegen uns richtet, destabilisiert ihr die Region und die Welt, wie wir sie kennen..." Ich glaube nicht, dass die Taliban hier eine Rolle spielen, weil Afghanistan und Kasachstan keine Nachbarstaaten sind und die Taliban um sich selbst kreisen.
Tatsache ist, dass radikale Religionsauffassungen sich ausbreiten, und mehr Leute in Zentralasien sich islamistischen Gruppen anschließen und mehr religiöse Einflüsse in der Politik wünschen. Aber die kasachische Regierung wird sich bemühen, da in Dialog zu treten und auch diese Leute mitzunehmen - ansonsten würden sie sich selbst nur neue Probleme schaffen. Das Narrativ, dass die Welt um Kasachstan herum instabil wird, wenn sich dort etwas verändert, dürfte nicht verfangen.