Sergej Sokolow ist stellvertretender Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", für die Anna Politkowskaja bis zu ihrer Ermordung berichtete.
tagesschau.de: Sergej Michailowitsch, wenn Sie an Anna Politkowskaja zurückdenken, an welchen Menschen erinnern Sie sich dann?
Sergej Sokolow: An eine Meisterin ihres Fachs, die nicht mit ansehen konnte, wenn eine Ungerechtigkeit geschah. Sie hatte einen ausgeprägten Anstandssinn und klare Vorstellungen von Wahrheit und Gerechtigkeit.
tagesschau.de: Vor 15 Jahren wurde die Journalistin der "Nowaja Gaseta" im Eingang ihres Moskauer Wohnhauses ermordet. Wie werden Sie den Jahrestag der Ermordung ihrer Kollegin in der Redaktion begehen?
Sokolow: Wir werden im Anna-Politkowskaja-Garten vor der Redaktion Blumen niederlegen und in ihrem Büro eine Ausstellung über die Recherchen nach ihrer Ermordung eröffnen, die auch der Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Artikel und der Film, die wir dazu schon veröffentlicht haben, berühren allesamt ein Thema: Die Auftraggeber des Mordes an Anna Politkowskaja haben die Ermittler nie ausfindig gemacht - und haben das auch nicht vor.
Das Gerichtsurteil gegen ihre Auftragsmörder wäre ohne die Hartnäckigkeit der Anwälte nicht zustande gekommen, die ihre Kinder und die "Nowaja Gaseta" vertreten. Die 15-jährige Verjährungsfrist läuft aus - und die Namen des Auftraggebers, des Vermittlers und weiterer Beteiligter kennen wir noch immer nicht. Ebensowenig, wer die Ermittlungen weiterführt. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass die politische Führung unseres Landes den Namen des Auftraggebers kennt, es aber für politisch nicht zielführend hält, ihn zur Verantwortung zu ziehen.
tagesschau.de: Welche Folgen hatte ihre Ermordung in der "Nowaja Gaseta"?
Sokolow: Wir mussten zeitweise die Arbeit in Tschetschenien einstellen, weil sie zu gefährlich geworden war. Zwar konnten wir sie wieder aufnehmen, aber es fügte der Redaktion eine weitere Wunde zu - denn wir haben seit der Gründung sechs unserer Mitarbeiter verloren.
tagesschau.de: Hierzulande gilt Anna Politkowskaja als Verfechterin des unabhängigen Journalismus in Russland in Erinnerung, im EU-Parlament gibt es den Anna-Politkowskaja-Pressesaal. Kennen die russischen Nachwuchsjournalisten ihren Namen?
Sokolow: Journalisten, die etwas vom eigenen Metier verstehen, kennen sie natürlich. Die, die für die staatlichen Medien arbeiten, können ihr Andenken nicht gebrauchen. Und was den Politkowskaja-Pressesaal angeht, wurde dort, soweit ich weiß, bislang noch nicht eine offizielle Pressekonferenz mit Vertretern Russlands abgehalten - weil die ihn nicht betreten wollen.
tagesschau.de: Was würde sie wohl über die heutige Lage von Journalistinnen und Journalisten in Russland sagen? Immerhin wurde zuletzt niemand von ihnen mehr getötet...
Sokolow: Ob niemand getötet wird, ist noch die Frage: Sie werden wohl eher durch Verbote in den Suizid getrieben - alle erinnern sich noch gut an den tragischen Tod der Journalistin Irina Slawina aus Nischni Nowgorod, die sich 2020 vor dem Polizeihauptquartier ihrer Stadt selbst anzündete.
Zwar gibt es im russischen Journalismus noch einen harten Kern, der seinen Beruf professionell ausübt, aber mehr auch nicht. Ich glaube nicht, dass Anna Politkowskaja über diese Frage überhaupt nachdenken würde. Ihr waren nicht Branchenprobleme, sondern ihre eigene Arbeit wichtig.
tagesschau.de: Worauf steuert der russische Journalismus zu? Immer mehr Kollegen und Redaktionen werden als sogenannte Ausländische Agenten eingestuft oder zu Extremisten erklärt...
Sokolow: Man bemüht sich, die unabhängige Presse so stark wie möglich zu marginalisieren und von jeder Möglichkeit abzuschneiden, von ihrer Arbeit zu leben. De facto wird über die Einstufungen als "Ausländische Agenten" und "Extremisten" ein Berufsverbot für Journalisten verhängt, die regierungskritisch sind oder einfach unabhängig arbeiten. Eine Zensur findet offiziell nicht statt, aber es gibt Vorstufen, denen mit dem Roskomnadsor sogar eine staatliche Behörde nachgeht. Die Aussichten für den Journalismus in Russland sind trüb.
tagesschau.de: Womöglich haben Sie sich bei der "Nowaja Gaseta" an den anhaltenden Druck schon gewöhnt?
Sokolow: Die Verfahren, mit denen Druck ausgeübt wird, ändern sich ständig. Man erstattet Anzeige gegen uns, damit auch wir als sogenannte Ausländische Agenten oder Extremisten eingestuft werden sollen. Bei jedem Mucks werden wir mit Geldstrafen belegt. Man schickte sich schon drei Mal an, Beiträge als "Fake News" einzustufen und zu verbieten (seit 2019 können gegen russische Onlinemedien die Sperrung und hohe Geldstrafen verhängt werden, wenn der Generalstaatsanwalt sie der Verbreitung von Falschnachrichten bezichtigt, Anmerkung der Redaktion), ohne sie zu prüfen. Der Druck kommt also heute schlicht von anderer Stelle.
tagesschau.de: Gibt es heute in Russland jemanden, dessen Stellenwert mit der Bedeutung Anna Politkowskajas als Journalistin vergleichbar ist?
Sokolow: Ihren Platz einzunehmen ist unmöglich, denn jeder Mensch ist einzigartig, die Begabungen unterschiedlich. Aber wir haben hervorragende Mitarbeiter, die sich mit der Berichterstattung zu Tschetschenien und zur politischen Repressionen beschäftigen - das waren zwei ihrer Schwerpunkte. Ihren Verlust können wir nicht verwinden, aber ihre Themen versuchen wir weiter zu tragen.
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