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Ungarn: Diskriminierung per Verfassung

Bildrechte: dpa picture alliance

Ungarn will Geschlechterdefinitionen in die Verfassung schreiben und Homosexuelle und Transmenschen im Land gezielt unter Druck setzen. Menschenrechtsanwälte hoffen auf die EU.


"Die Mutter ist eine Frau, der Vater ein Mann": Geht es nach Justizministerin Judit Varga, hat dieser Satz in Ungarn bald Verfassungsrang. Sie brachte am Dienstag einen entsprechenden Vorstoß ins Parlament ein - nur einer von einem ganzen Bündel an Gesetzesentwürfen, die regeln wollen, dass "die Basis einer Familie die Ehe ist", die ungarische Gleichstellungsbehörde EBH abgeschafft und für Kinder "eine Erziehung gemäß der Werte, die auf Ungarns verfassungsmäßiger Identität und christlicher Kultur basieren" im ungarischen Grundgesetz vorgeschrieben sein soll.

"Man sieht, dass es eine Reihe koordinierter, miteinander verbundener Gesetzentwürfe ist - ein Generalschlag gegen homosexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen", sagt Tamás Dombos, der dem Vorstand der ungarischen Menschenrechtsorganisation "Magyar LMBT Szövetség" angehört. Er sagt: Seit Ende 2019 habe die "politische Homo- und Transphobie durch Regierungsmitglieder" in Ungarn zugenommen - aber schon seit die Regierung unter Premierminister Viktor Orban 2010 an die Macht kam, gehe sie systematisch gegen queere Menschen im Land vor.


Eine Ehe ist in Ungarn kraft der Verfassung seit 2012 als "Vereinigung aus Mann und Frau" definiert - homosexuelle Paare sind damit sowohl von einer Hochzeit als auch von einer Kindesadoption kategorisch ausgeschlossen. Seit Mai dieses Jahres legt ein nationales Gesetz fest, dass das Geschlecht eines Menschen "anhand primärer Geschlechtsmerkmale und Chromosomen" einmalig bei der Geburt festgestellt wird - intersexuelle Kinder werden dabei ebensowenig berücksichtigt wie transgeschlechtliche Ungarn, die ihr Geschlecht nach der Transition nun im Ausweis nicht mehr ändern lassen können.

Der jüngste Gesetzentwurf sei "eine Deklaration der homo- und transfeindlichen Politkampagnen, die wir in den vergangenen zwei Jahren beobachtet haben", sagt Aron Demeter, Programmdirektor bei Amnesty International Ungarn. "Aber sie richtet großen Schaden für die Betroffenen an, denn gewöhnlich werden diese Verfassungsregeln in sehr detaillierten Regelungen in der allgemeinen Gesetzgebung aufgesogen. Das legalisiert auf viele Arten Diskriminierung - und schreibt sie sogar in der Verfassung fest."


Stehen Geschlechter- und Paardefinitionen einmal in der Verfassung, sind alle Institutionen der Justiz wie das Verfassungsgericht oder die Ombudsperson daran gebunden. Gesetze können dann nicht mehr anders interpretiert werden, warnt Demeter - kurz: Anwälte können in Ungarn nicht mehr gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung klagen, wenn diese Ungleichheit in der Verfassung als rechtens definiert ist: "In Ungarn wird es dann keine Rechtsmittel gegen diese Schritte mehr geben."

Wieder abgeschafft werden können Änderungen am Grundgesetz Ungarns nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament - dass die Partei Fidesz von Premierminister Viktor Orban dort die Mehrheit hat, macht einen Rückzieher aber unwahrscheinlich. Wie jetzt bekannt wurde, strebt die rechtsnationale Regierung überdies gerade eine gesetzliche Hürde an, die der in kleinere Fraktionen zersplitterten Opposition ein vereintes Antreten bei der nächsten Parlamentswahl erschweren soll: Demnach sollen Parteien künftig in mindestens 50 Wahlkreisen eigene Direktkandidaten aufstellen müssen, um zugelassen zu werden.

Der Gesetzentwurf zu Geschlechterdefinitionen ziele auf das gleiche ab, meint Demeter: "Das Endziel ist immer, die Wiederwahl zu sichern - und die Regierung sichert sich so auch das Wohlgefallen ihrer wichtigsten Unterstützergruppe." Nach jahrelangen Verbalattacken, mit denen Regierungsmitglieder Homosexuelle und Transmenschen mal direkt, mal insinuiert mit Pädokriminellen gleichsetzten, sehen viele Ungarn in ihnen in erster Linie potenzielle Straftäter. Andere sind durch die rigorose Gesetzlage zunehmend eingeschüchtert. Diese Vorstellungen lassen sich leicht mit der positiven Selbstdarstellung als traditionelle, christliche Gesellschaft verbinden. Angriffe auf Minderheiten seien für Orban regelrecht notwendig, sagt Demeter:

"Die ungarische Regierung funktioniert so, dass sie immer einen Feind festlegt, damit sie die Illusion eines Kampfs dagegen aufrechterhalten kann. In den vergangenen Jahren gab es viele solcher 'Feinde': Die Flüchtlinge, George Soros, Bürgerrechtsorganisationen, Universitäten - jetzt ist die LGBT-Gemeinschaft im Visier."


Wie er erklärt sich auch Dombos die neuen Gesetzentwürfe zu Geschlechterdefinitionen und -rollen mit dem Versuch, "die Aufmerksamkeit von der Unfähigkeit der Regierung in der Corona-Krise abzulenken" - zu diesem Zweck dürften auch scheinbare Banalitäten zu Verfassungsrang erhoben werden, meint er und zitiert augenzwinkernd einen Witz, den er auf Facebook gelesen hat: "Vielleicht sollten wir noch in der Verfassung festlegen, dass der Himmel blau und das Gras grün ist?"

Doch das inhaltliche Ziel der Vorstöße sei klar: "Es gibt nur zwei Arten, das zu erklären: Entweder soll damit eine Aussage über Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare getroffen werden, ohne das beim Namen zu nennen, denn gewöhnlich bezeichnet sich bei ihnen nicht nur ein Elternteil als Vater und der andere als Mutter. Oder es zielt auf transgeschlechtliche Menschen ab, die Kinder bekommen - und ebenfalls nicht als Eltern anerkannt werden sollen."

Somit, meinen beide Menschenrechtsaktivisten, geht von dem Gesetzentwurf auch die gesellschaftliche Botschaft aus: Homosexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen sind in Ungarn Bürger zweiter Klasse - und unerwünscht. Treten die geplanten Verfassungszusätze in Kraft, bleibt betroffenen Ungarn, die gleiche Rechte für sich durchsetzen wollen, nur noch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) - für die sie kaum Ressourcen haben werden. Im Sommer sprach der EGMR einem nach Ungarn geflüchteten Transmann das Recht zu, in seine Ausweisdokumente das Geschlecht "männlich" eintragen zu lassen - doch die ungarischen Behörden weigern sich bislang, die Entscheidung umzusetzen.


Kann die EU einschreiten - etwa, indem sie den neugeschaffenen Rechtsstaatsmechanismus gegen ihren Mitgliedstaat greifen lässt? Einen solchen Vorstoß müsste eine qualifizierte Mehrheit der EU-Staaten mittragen - dass etwa Polen sich angesichts eigener Kampagnen bereiterklären wird, ist unwahrscheinlich.

Sowohl Amnesty-Programmdirektor Demeter als auch Tamás Dombos von "Magyar LMBT Szövetség" meinen: Die EU solle nichtsdestoweniger an Ungarn appellieren, dass die Pläne gegen die demokratische Grundsätze im EU-Vertrag verstießen - und der Regierung Orban die Gelder entziehen, wenn sie sich den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Schutz vor Diskriminierung weiter entzieht. Ein einzelnes Verfahren könne wenig ausrichten, meint Demeter - "aber was der ungarischen - und bestimmt auch der polnischen - Regierung wirklich wichtig ist, ist Geld."

Dass sie mehr gegen den EU-Rechtsstaatsmechanismus als gegen einen drohenden Ausschluss per Vertragsverletzungsverfahren Front gemacht habe, spreche Bände - denn letzteres ist nicht unmittelbar mit einem Entzug von Finanzmitteln verknüpft. "Die Regierung Orban nutzt wieder einmal die Corona-Pandemie und ihre nahezu absolute Macht aus, gegen missliebige Menschen und Gruppen vorzugehen", sagt Demeter. "Das ist nicht nur eine Bedrohung für Ungarn, sondern für die europäische Gemeinschaft."


Der Artikel ist abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/ungarn-lgbt-diskriminierung-101.html


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