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Schleswig-Holstein: „Heide-Mord" - Die Macht politischer Gerüchte - WELT

Schleswig-Holstein „Heide-Mord" - Die Macht politischer Gerüchte

Es ist einer der bekanntesten politischen Skandale: 2005 beendet ein Abweichler die Karriere von Heide Simonis. Seine Identität ist ungeklärt. Das Beispiel zeigt die Macht von Beschuldigungen.

Die drei Söhne werden zu den Großeltern geschickt. Sie sollen möglichst wenig von dem medialen Tsunami mitbekommen, der an der Kieler Förde gerade über ihren Vater hereinbricht. Anrufe, Briefe, Faxe, E-Mails. Allesamt mit derselben Anschuldigung: „ Heide-Mörder ". Hasserfüllt. Selbst in einer New Yorker Zeitung erscheint ein Bild des Hauptverdächtigten, daneben sein Name und das Wort „Verräter". „Das war eine große Belastung. Das hat viel Kraft gekostet", sagt Ralf Stegner. Präzise erinnert sich der Sozialdemokrat noch an den 17. März 2005, der das politische Leben von Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) zerstört. Und beinahe auch das seine.

Das sei „der finsterste Tag" seiner Karriere, sagt Stegner. Seinerzeit Finanzminister in Kiel, mittlerweile Landes- und Fraktionschef, Bundesvize zudem. Vier Mal verweigert ein Abweichler aus den eigenen Reihen der Regierungschefin in geheimer Wahl die Stimme und ebnet dem CDU-Kandidaten Peter Harry Carstensen den Weg in die Staatskanzlei. Das Gerücht, dass Stegner der Abtrünnige ist, haftet bis heute an ihm, dem linken Enfant terrible. Gerecht oder ungerecht? Zufällig oder absichtlich? Zumindest unauslöschlich im Zeitalter des Internets, von sozialen Netzwerken und Blogs. Und so zeigt der „Heide-Mord" exemplarisch, welche Macht ein Gerücht speziell in der Politik besitzt.

Wann Gerüchte entstehen

Wie realistisch die Anschuldigung ist, spielt beim Zündeln keine Rolle. Die Menschen glauben es, wenn sie es wollen. „Je ungewisser und je relevanter die Situation, desto eher beginnen die daran Beteiligten, miteinander zu kommunizieren: Das Gerücht wird als plausible Deutung der Situation geboren. Diese Deutung muss nicht wahr, sondern nur plausibel erscheinen", erklärt der emeritierte Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten. Er forscht seitJahrzehnten zu dem Phänomen, zuletzt an der Universität Münster.

So gibt es prinzipiell zwei Situationen, in denen Gerüchte entstehen: „Entweder, wenn es kaum Informationen gibt und die existierende Leere ausgefüllt werden muss. Oder, wenn zu viele Informationen vorhanden sind und das Gerücht für eine Art Ordnung sorgen soll", sagt Merten. Sei es nun im Sport, um die Transfersumme eines Fußballers in die Höhe zu treiben. Sei es in der Wirtschaft, um die Belegschaft auf Entlassungen vorzubereiten.

In der Politik sind es meist Gerüchte über Rücktritte, die sich oft bestätigen. Darüber hinaus lebt jenes Parkett von Vermutungen und Annahmen. Täglich. „Politik ist ein perfekter Nährboden für Gerüchte", betont Merten, „weil Parteien sich gegeneinander verhalten können und auch müssen." Da müssten Politiker durch und manchmal schweigen können wie ein Grab. Ferner habe das Internet das Lostreten, die Verbreitung und die Intensität von Gerüchten noch einmal in eine neue Dimension katapultiert. Merten: „Das Internet ist ein notorischer Lieferant von Gerüchten."

Die Suche nach dem „Heide-Mörder"

Gerüchte um den Beifahrer der damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann bei ihrer Promille-Rotlicht-Fahrt. Gerüchte um Doktorarbeiten und Lebensläufe von Bundestagsabgeordneten. Gerüchte um die SPD-Kanzlerkandidatur am TV-Stammtisch. Im Bundesland zwischen den Meeren scheinen Gerüchte allerdings besonders gut zu gedeihen. Gleich mehrere davon ranken sich um Uwe Barschel (CDU) und dessen mysteriösen Tod 1987. Und vor fünf Jahren lösen Tuscheleien die sogenannte Lolita-Affäre um den CDU-Hoffnungsträger Christian von Boetticher aus, bringen ihn zu Fall.

Als besonders tragisch entpuppt sich der „ Heide-Mord ", denn Simonis sitzt im Frühjahr 2005 fest im Sattel. Nach der Landtagswahl verfügt ihre SPD mit den Grünen und dem tolerierenden Südschleswigschen Wählerverband (SSW) über eine Stimme Mehrheit. Knapp, aber ausreichend. Alles deutet darauf hin, dass Deutschlands erste Ministerpräsidentin im Amt bestätigt wird. Doch das Unmögliche geschieht. Viermal stellt sich Simonis den Abgeordneten im Landeshaus zur Wahl, vier Mal fehlt ihr eine Stimme. Das anfängliche Gelächter weicht fassungsloser Stille. Simonis gibt auf.

Und die Suche nach dem „Heide-Mörder" beginnt. Die Gerüchteküche brodelt: Da wollte einer die Koalition nicht. Oder ist da jemand persönlich gekränkt, weil er kein Amt abbekommen hat? Oder ist das Motiv Hybris, der Gedanke, geeigneter als die Ministerpräsidentin zu sein? Oder ist er oder sie von der Opposition bestochen worden? Noch am selben Tag werden einige Abgeordnete verdächtigt. Am Abend dann tauchen die ersten Vorabmeldungen größerer Zeitungen auf, in denen Ralf Stegner beschuldigt wird, der Abweichler zu sein. „Das war ein Schock und eine Situation, in der man sich schlecht wehren kann", beschreibt der 56-Jährige.

Wolfgang Kubicki bestreitet, Urheber zu sein

Stegner ist nicht nur der prominenteste Verdächtigte. Er ist derjenige, der polarisiert, ein naheliegendes Opfer für Beschuldigungen. Es ist die Chance für Feind wie Freund, sich an ihm abzuarbeiten: Arrogant sei er, der Miesepeter aus dem Norden, kalt und berechnend, unnahbar und unsympathisch, garstig und bärbeißig. Doch taugt er deshalb zum „Heide-Mörder"? Stegner verneint: „Es wissen alle, die mich kennen, dass ich mich direkt melde, wenn ich einen Konflikt habe." Er möge andere Fehler haben. Auch stehe er für einen „harten politischen Wettbewerb in der Sache". Stegner: „Hinterhältig jedoch bin ich nicht."

Für das Gerücht ist das unerheblich, ebenso, dass Stegner angeblich kein Motiv für den Sturz der Simonis hat. Die Tatsache, dass beide eigenen Aussagen nach miteinander vereinbart hätten, dass er ihr Nachfolger würde, genügt nicht. Das Gerücht nimmt seinen Lauf. Wolfgang Kubicki, damals wie heute FDP-Fraktionschef im Kieler Landtag, gehöre zu denen, die es angestoßen haben, sagt Stegner. Das sei keine legitime Form des politischen Wettbewerbs und außerordentlich schäbig.

Kubicki bestreitet, das Gerücht aktiv gestreut zu haben. Lediglich habe sich seine Einschätzung, wem der „Heide-Mord" nütze, „irgendwie verselbstständigt". Kubicki: „Ich verdächtige ihn nicht, das wäre auch Quatsch. Aber der Einzige aus der Sozialdemokratie, der davon etwas gehabt hat, ist Ralf Stegner. Sein weiterer Aufstieg in der Partei wäre sonst anders abgelaufen." Ohnehin könnten nicht viele Menschen eine derartige Tat durchführen. „Ich wäre so ein Typ, der das denken, planen und machen könnte. Stegner auch", sagt der FDP-Bundesvize. Was danach jedoch auf Stegner und dessen Familie einprasselt, bedauert Kubicki. „Ich will alles, nur nicht Initiator dafür sein, dass aufgrund einer falschen Anschuldigung, in Persönlichkeitsrechte eingegriffen wird. Ich kann mich dafür nur entschuldigen, mehr kann ich nicht tun", sagt der Liberale.

Stegner wehrt sich energisch gegen das Gerücht, schreibt am 18. März 2005 einen offenen Brief an den anonymen „Heide-Mörder", nutzt jede Talkshow, jede Zeitung: „In so einem Fall müssen ja nicht andere beweisen, dass das Gerücht stimmt. Stattdessen muss der Beschuldigte beweisen, dass die Anschuldigung falsch ist. Das ist praktisch kaum möglich." Die Alternative, nichts zu sagen, erwägt er nicht: „Wenn man in überregionalen Zeitungen und Magazinen beschuldigt wird, gibt es keine andere Möglichkeit als die Offensive."

Normalerweise rät Kommunikationsforscher Merten den Opfern, „sich möglichst aus dem Gerücht herauszuhalten und es nicht weiterzutragen". Bereits darüber zu reden, sei ein „Beweis" für die Schuld. Also sagen, dass man nichts sagt und hoffen, dass es vorübergeht. Hat Stegner durch sein öffentliches Abstreiten folglich einen Fehler begangen? Merten: „Was soll er auch machen, wenn es stimmt. Und wenn es nicht stimmt, und er den Verdacht von sich ablenken will, täte er auch gut daran, zu sagen, dass er es nicht war." Der Unschuldige verhalte sich wie der Schuldige, weil der Schuldige gerne den Status des Unschuldigen haben möchte.

Nicht jedem in der SPD gefällt Stegners mediales Sperrfeuer im Frühjahr 2005. Der Verdächtigte wiederum vermisst die öffentliche Unterstützung aus der Partei. „Das sehe ich sehr kritisch. Denn wenn an einem die Beschuldigung haftet, der ,Heide-Mörder' zu sein, trauen einem die Menschen alles Mögliche zu." Und wer Pech hat, den ruiniert es.

Stegner ist seither „noch vorsichtiger geworden", andere Menschen einer Sache zu beschuldigen, wenn er nicht wirklich sicher ist. Zu einem Wandel seines Politstils hat die bittere Erfahrung nicht geführt: „Ich kritisiere andere weiter in der Sache scharf, aber nicht unfair." Wahr sei aber auch: „Wirklich wehtun können einem nur Menschen, die einem etwas bedeuten. Dazu gehören Menschen anderer Parteien in der Regel nicht." Der 56-Jährige stellt fest: „Politische Konkurrenten haben mich noch nie kleingekriegt. Und das wird in diesem Leben auch nicht mehr passieren."

Was bleibt, sind Vermutungen

Stegner hat das Gerücht politisch überlebt. Trotz existenzieller Bedrohung. Er ist der starke Mann der Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein, mit dem meisten Einfluss in Berlin, mit der größten Bekanntheit im Bund. Die Aussicht, Parteifreund Torsten Albig im Mai 2017 als Ministerpräsident abzulösen, mag vage sein. Ausgeschlossen ist es nicht. Die Identität des „Heide-Mörders" indes bleibt ungeklärt. Und das ist laut FDP-Bundesvize Kubicki gut so: „Es sei denn, derjenige möchte auf dem Sterbebett noch sein Gewissen erleichtern. Das würde voraussetzen, dass es bei den Sozialdemokraten gläubige Menschen gibt. Das sind dort aber nicht sehr viele."

Natürlich hat auch Stegner eine Vermutung. Alle haben eine Vermutung. Und für den 56-Jährigen wäre „es ein Segen, wenn herauskäme, wer es war". Es wäre „entlastend für alle". Für die SPD, für Simonis, für seine drei Söhne. „Und auch für mich", sagt Stegner.

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