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Ihre Kund:innen sitzen meist in Europa, die Niederlassungen der Callcenter stehen in Marokko. Während die Stimmen der Arbeiter:innen Gewinn erwirtschaften, versuchen die Unternehmen, Gewerkschafter:innen zum Schweigen zu bringen.

Als Ayoub Saoud eines Morgens im April zur Arbeit im Callcenter Casablanca B2S gehen will, versperren ihm zwanzig Sicherheitsmänner den Weg. Sie verweigern ihm und sechs anderen Angestellten den Zugang zu ihren Arbeitsplätzen. Die Firma hat ihre Löhne eingefroren, sie vom Dienst suspendiert und Strafanzeige gegen sie erstattet. Der Grund: Die sieben Arbeiter:innen sind Betriebsratsmitglieder und Gewerkschafter:innen. Und sie haben sich am 21. April 2022 an einem Streik beteiligt.

Union Busting im globalisierten Callcenter Sektor

Union Busting, also das Zerschlagen und Behindern von Gewerkschaften, ist in Marokkos Callcenter-Branche Alltag für die Gewerkschafter:innen. Die Firmen, meist multinationale Unternehmensgruppen, kündigen, schüchtern ein und bieten Ablöseschecks, um jegliche Organisierung zu verhindern. Dass es im Fall des Callcenters B2S überhaupt eine Gewerkschaft gibt, die noch dazu 80 Prozent der Belegschaft repräsentiert, ist keine Selbstverständlichkeit und hart erkämpft.

Der Sektor ist mit rund 120.000 Arbeitsplätzen wichtiger Arbeitgeber im Land, vor allem für junge Akademiker:innen. Seit den 90er-Jahren lagern europäische Unternehmen ihre Callcenter in den Globalen Süden aus. Viele französischsprachige Unternehmen wählen Marokko als Offshore-Destination. Staatliche Anreizprogramme verschaffen ihnen steuerliche Vorteile, sie versprechen sich günstige Arbeitskräfte und schwache Gewerkschaften. Der marokkanische Staat hingegen will damit Arbeitsplätze schaffen und ausländische Investitionen anlocken.

In manchen Fällen sind die ausländischen Unternehmen mit der marokkanischen Wirtschaftselite verknüpft und haben so enge Verbindungen zum Königshaus. Majorel, eines der international führenden Unternehmen der Branche, ist eine Fusion aus der Callcenter-Sparte des deutschen Bertelsmann-Konzerns und der marokkanischen Saham Group. Der Gründer von Saham, Moulay Hafid Elalamy, war von 2013 bis 2021 Minister für Industrie, Handel und Digitales. Heute hat er einen Posten als Berater des Königs inne.

Prekäre Arbeitsbedingungen
 

Auch wenn mit dem Callcenter-Sektor tatsächlich viele neue Stellen entstanden sind, ist die Arbeit belastend und prekär. 44-Stunden-Woche, keine Lohnfortzahlung bei Krankheit und teils rassistische Beleidigungen durch die europäischen Kunden. Der Druck, bestimmte Ziele zu erfüllen, etwa eine bestimmte Anzahl von Anrufen in einer bestimmten Zeit zu erledigen, ist hoch: die Löhne bestehen bis zu 50 Prozent aus Prämien. Fallen die weg, wird es eng am Monatsende. Und das, obwohl die Gehälter in den Callcentern mit 4.000 bis 5.000 Dirham weit über dem Mindestlohn von 2.800 Dirham (circa 280 Euro) liegen. Für ein Leben in den großen Städten wie Casablanca oder Rabat, in denen die meisten Callcenter liegen, reicht der Mindestlohn allerdings kaum für eine Person.

Ayoub Saoud, der seinen Job bei B2S verloren hat, ist Generalsekretär der Fédération nationale des centres d'appels et des métiers de l'offshoring (FNCAMO), die zur Dachgewerkschaft Union marocaine du travail (UMT) gehört. Er und seine Mitstreiter:innen bei B2S legten im Dezember 2021 einen Forderungskatalog vor, um mit ihrem Arbeitgeber in die Tarifverhandlung zu gehen. Hauptpunkt war eine Angleichung der Löhne an die grassierende Inflation.

Die französische Unternehmensleitung verweigerte die Verhandlung. Stattdessen schickten sie einen Anwalt, der den Gewerkschafter:innen Geld bot, sollten sie ihre Kündigung einreichen. Also schaltete die Gewerkschaft die Arbeitsaufsichtsbehörde ein, ging bis zum lokalen Gouverneur und zum Arbeitsministerium in Rabat. Selbst die drei Einladungen der Behörden ließ B2S unbeantwortet. „Also mussten wir zu militanteren Aktionen übergehen", sagt Saoud und schließlich gingen 400 der 1.400 Angestellten am 21. April 2022 in einen halbtägigen Streik, der für sieben von ihnen bei der Polizei endete.

Strafgesetzbuch aus der Kolonialzeit

Der Artikel 288 des marokkanischen Strafgesetzes wurde zur Zeit der französischen Kolonisation eingeführt. In ihm wird das Herbeiführen von Streiks „mit Hilfe von Gewalt, Tätlichkeiten, Drohungen oder betrügerischen Machenschaften" unter Strafe gestellt. Die französische Autorität wollte damit den Widerstand marokkanischer Arbeiter:innen unterbinden. Nach der Unabhängigkeit 1956 übernahm der marokkanische Staat das Strafgesetzbuch inklusive Paragraf 288. Heute beruft sich B2S auf ebendiesen Paragrafen, um gegen die marokkanischen Gewerkschafter:innen vorzugehen. Ihnen droht eine Geldstrafe oder Haft zwischen zwei Monaten und fünf Jahren.

„Das sind mafiöse Praktiken," sagt Saoud, „das trifft Familien - was soll man machen, wenn plötzlich der Lohn wegfällt?". Die meisten der Gewerkschafter:innen, die in Folge des Streiks ihre Anstellung und somit ihre Gehälter verloren haben, sind Eltern. Einmal als Gewerkschafter:in bekannt, finden sie kaum wieder Jobs im Sektor, auch die anderen Firmen werden sie nicht mehr einstellen. Das ohnehin geringe Arbeitslosengeld aus der Caisse nationale de sécurité sociale (CNSS) zu erhalten, ist nicht einfach.

Gewerkschaften im Kontext globaler Ungleichheit

Das ist es auch, was die Gewerkschaftsarbeit so schwierig macht: Die Arbeiter:innen haben schlichtweg Angst, ihren Job zu verlieren, sollten sie sich engagieren. Hinzu kommt die Stigmatisierung der Gewerkschaften als Unruhestifter, die der Firma schaden und Arbeitsplätze riskieren. Ständig steht die Drohung im Raum, die Produktion in noch günstigere Länder auszulagern. Dorthin, wo keine Gewerkschaften nerven.

Doch nicht nur die Unternehmen schaffen die globalen Verflechtungen, die den Sektor prägen: Viele Migrant:innen aus frankophonen west- und zentralafrikanischen Staaten arbeiten in den Callcentern Marokkos. Senegales:innen reisen beispielsweise aufgrund eines Abkommens der beiden Länder visafrei ein und erhalten eine Arbeitserlaubnis. Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung finden sich dagegen häufig in illegalen Callcentern wieder, wo die Arbeitsbedingungen wesentlich schlechter sind und Arbeitnehmer:innenrechte kaum existieren. Die Gewerkschaft kann sie in beiden Fällen nicht vertreten. Nach marokkanischem Recht ist es nur marokkanischen Staatsbürgern gestattet, einer Gewerkschaft beizutreten. Auch ein Punkt, den die FNCAMO kritisiert.

Internationale Gewerkschaftsarbeit als Antwort

Was der Unternehmensleitung bei B2S besonders missfiel, sei die internationale Organisierung unter den Gewerkschaften des italienischen Mutterkonzerns Comdata gewesen, an der Saoud und seine Kolleg:innen beteiligt waren. Comdata bereitet sich gerade auf den Verkauf an einen anderen Callcenter-Riesen vor. Die Unternehmensführung agiert in diesem Kontext zusätzlich gewerkschaftsfeindlich, zögert Verhandlungen hinaus und vertröstet die Arbeiter:innen mit ihren Forderungen auf die Zeit nach der Fusion.

Da es sich bei den Callcentern um Subunternehmer-Strukturen handelt, machen die Gewerkschaften auf internationaler Ebene auch Druck auf die Auftraggeber. Das sind wiederum andere multinationale Firmen wie das französische Telekomunternehmen Orange oder der Energiekonzern Total. Diese sollten ihrer Verantwortung nachkommen, in ihren Lieferketten auf Arbeitnehmerrechte zu achten. „Die haben einen Ruf zu verlieren", findet Saoud.

Während Comdata in Marokko gerade das Label „Best Place to Work" erhalten hat, muss Ayoub Saoud sich um seine persönliche Zukunft kümmern. Er und die anderen Gewerkschafter:innen kämpfen darum, ihre Anstellung bei B2S zurückzubekommen. Dass all die internationalen Unternehmen sich nicht an die marokkanischen Gesetze halten, sich weder von Behörden noch Gewerkschaften beeindrucken lassen, sieht Saoud als Ungerechtigkeit von globalem Ausmaß: „Würdet ihr in Frankreich Betriebsratsmitglieder feuern? Nein. Warum betrachtet ihr Marokko als erobertes Terrain? Das ist nicht normal, das ist Neo-Kolonialismus".

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