ZEITmagazin ONLINE: Sie sind Sexologin und haben schon mehr als 1.000 Frauen mit einem Körperteil bekannt gemacht, das den meisten bis dahin nahezu unbekannt war: dem Gebärmutterhals. Warum tun Sie das?
Olivia Bryant: Die meisten Frauen haben keine Beziehung zu diesem Teil ihres Körpers. Es ist wie ein unbekanntes Universum, das es zu entdecken gilt. Die meisten Frauen assoziieren den Gebärmutterhals mit Krebs, gynäkologischen Abstrichen und mit Geburten. Nicht mit Lust. Das hat die Zervix - so heißt sie in der Fachsprache - nicht verdient.
ZEITmagazin ONLINE: Warum nicht?
Bryant: Sie ist ein unglaublich empfindsames Organ, das einzige, in dem drei Hauptnerven enden. Selbst die Oberfläche ist von einem Nervengeflecht überzogen. Offenbar ist die Zervix dafür gemacht, dass wir damit etwas empfinden. Dass ein Gebärmutterhals taub ist, ist keineswegs normal, aber sehr weit verbreitet. Selbst querschnittgelähmte Frauen können durch ihn Orgasmen haben - weil die Zervix nicht nur über das Rückenmark mit dem Gehirn verbunden ist wie die Klitoris, sondern auch über den Vagusnerv. Wenn wir die Zervix stimulieren, kann der Körper die Substanz DMT (Dimethyltryptamin) ausschütten, sie ist der Hauptbestandteil von bewusstseinserweiterten Pflanzendrogen wie etwa Ayahuasca. DMT kann im Gehirn während der Geburt, während des Sterbens oder in Ekstase ausgeschüttet werden. Die Zervix kann Frauen so zu sehr intensiven Orgasmen bringen.
ZEITmagazin ONLINE: Klingt super. Was muss ich dafür machen?
Bryant: Das ist ein längerer Prozess. Bei den meisten Frauen ist die Zervix taub. Wenn man die Zervix aber sensibilisiert, fühlt man bedeutend mehr. Davon berichteten mir Hunderte Frauen, mit denen ich international gearbeitet habe. Ein Teil der Frauen fühlt anfangs auch Schmerz - was dazu führt, dass sie vermeiden, ihre Zervix zu berühren. Diese Schmerzen zeigen aber auch, dass sie ihren Körper bisher zu wenig wahrgenommen haben. Noch immer glauben Frauen, sie müssten sich sexuell anpassen. Das ist eine alte Geschichte, die immer noch wirkt.
Olivia Bryant wurde 1976 in Neuseeland geboren. Die ausgebildete Sexologin arbeitet in Melbourne, Australien, als Sex-Coach. Im Februar 2016 hat sie mit Shae Elise Allen das Programm "Awaken The Cervix" entwickelt, bei dem auf einer Onlineplattform international mehr als 1.000 Frauen teilnehmen.
ZEITmagazin ONLINE: Noch mal einen Schritt zurück: Warum ist denn der Gebärmutterhals bei so vielen Frauen überhaupt taub?
Bryant: Die Zervixforschung ist noch ziemlich am Anfang. Belegt ist, dass gynäkologische Eingriffe an der Zervix Taubheit verursachen, wenn beispielsweise abnormes Zellgewebe vom Gebärmutterhals abgeschabt oder es herausgeschnitten wird. Sehr wahrscheinlich wird die Zervix auch taub, wenn sie beim Penetrieren zu heftig angestoßen wird oder etwa durch schmerzhaften Sex, bei dem sich die gesamte Beckenmuskulatur verspannt. Manchmal wird die Taubheit auch direkt über das Gehirn ausgelöst, zum Beispiel durch traumatische Erlebnisse.
ZEITmagazin ONLINE: Wenn die Zervix so ein vielversprechendes Organ ist, warum hat man sich bisher so wenig mit ihr beschäftigt?
Bryant: Der Gebärmutterhals wird von den meisten Menschen nicht als Lustorgan angesehen, und auch in der Welt der Sexologen ist es noch immer eine weitverbreitete Annahmen, dass die Zervix nichts fühlt. In den fünfziger Jahren hatte der berühmte Sexforscher Alfred Kinsey das Organ erforscht - und er kam zu dem Schluss, dass die Zervix komplett taub ist, zu keinerlei Erregung fähig. In seinem Versuch bat er Frauen, ihre Zervix mit einem Wattestäbchen zu stimulieren, und sie fühlten nichts. Daraus folgerte er, dass die Zervix nichts fühlt. Sehr wahrscheinlich hat er aber nur an Frauen geforscht, deren Zervix taub war. Möglicherweise war auch die Art der Stimulierung - mit einem Wattestäbchen und einem bestimmten Druck - nicht hilfreich, um die Gebärmutterhälse zu stimulieren. Kinsey lag falsch, das belegt die neueste Zervix-Forschung.
ZEITmagazin ONLINE: Wenn eine Zervix nun komplett abgestumpft ist - wie kann man sie überhaupt wieder zum Leben erwecken?
Bryant: In den östlichen Sexualpraktiken, dem Daoismus und dem Tantra, spielt die Zervixstimulierung traditionell eine große Rolle. Nun gibt es auch Forschungsergebnisse von Barry Komisaruk von der Rutgers University in Newark mit Mäusen, die belegen, dass bestimmte Nerven wieder zusammenwachsen, wenn ihre Zervix stimuliert wird. Wahrscheinlich stellt auch das Gehirn eine neuronale Verbindung her. Viele Frauen berichten davon, dass ihr Gefühl in der Zervix zurückkommt, wenn sie sie stimulierten.
ZEITmagazin ONLINE: Und das lernen die Frauen bei Ihnen?
Bryant: Zunächst muss man überhaupt ein Bewusstsein für die Zervix schaffen. Wir bieten auf einer Plattform im Internet Coaching und Begleitung in dem Entdeckungsprozess an und empfehlen Therapeuten und Experten für persönliche Unterstützung in vielen Ländern. In einem intimen, sicheren Raum im Netz tauschen die Teilnehmerinnen schließlich ihre Erfahrungen aus. Es sind derzeit etwa 1.500 Frauen aus 38 Nationen in unserer Gruppe, viele von ihnen sind professionell ausgebildet auf Gebieten der Körperarbeit und unterstützen sich gegenseitig. Und wir unterrichten die Frauen auch darin, eine tägliche Übungspraxis auszuführen.
ZEITmagazin ONLINE: Wie darf ich mir das konkret vorstellen?
Bryant: Wir leiten in Videos, die wir auf der Plattform zur Verfügung stellen, zu einer Selbstmassage an, beginnend an den Brüsten, die in den östlichen Traditionen als Schlüssel zum Öffnen der Vagina gilt. Die Frauen massieren sich den Bauch, die Innenseiten der Schenkel, die äußeren Schamlippen. Das kann bis zu einer Stunde dauern. Dann geht es ans De-Armouring.
ZEITmagazin ONLINE: Was ist das denn?
Bryant: Es ist eine Art Entpanzerung des Körpers.Jede Teilnehmerinnen dringt in ihre Vagina ein und presst einen Finger im Uhrzeigersinn rund um den Eingang herum. Überall dort, wo sie Verspannung, Schmerz oder Taubheit fühlen, drücken sie ihren Finger in das Gewebe, atmen ein, entspannen und drücken dann alles heraus. Ein bisschen wie beim Shiatsu, nur von innen. So lernt das Nervensystem, sich zu dort entspannen, wo es wehtut. Dieser Prozess ist die Grundlage für eine entspannte Erregung. Wir sind sehr an Orgasmen gewöhnt, bei denen wir die Muskulatur im Beckenbereich anspannen. Das ist eine Lust, die auf einen Orgasmus hinausläuft, bei dem durch die Stimulierung des symphatischen Nervensystems Dopamin ausgestoßen wird, ein sehr zielorientierter Orgasmus, der bei Frauen durch klitorale Stimulierung ausgelöst wird. Direkt nach diesem Höhepunkt schüttet der Körper Prolaktin aus und wir wollen nur noch schlafen.
ZEITmagazin ONLINE: Das klingt doch schon ganz gut! Was kann der Zervix-Orgasmus, was der normale nicht kann?
Bryant: Dadurch, dass wir den Körper mit unserer Übung entspannen und beim Sex tief atmen, werden die Hormone Oxytocin und Serotonin ausgestoßen und wir gelangen in einen entspannten Erregungszustand, der viele Stunden andauern kann. Nur durch diese Entspannung kann die Zirbeldrüse das DMT ausschütten - der Ausstoß von Prolaktin nach einem klitoralen Orgasmus verhindert genau das. Es geht also am Ende um eine bestimmte Mischung von Hormonen.
ZEITmagazin ONLINE: Welche Rolle spielt eigentlich der Partner bei dem Programm?
Bryant: Wenn eine Frau die Verantwortung für ihre eigene Lust übernimmt, muss ein Partner nicht mehr raten, was er tun soll, sondern kann sich völlig entspannen. Männer können ihren Penis aber auch für das De-Armouring nutzen, so wie die Frau es vorher mit dem Dildo oder dem Finger getan hat.
ZEITmagazin ONLINE: Was macht man als Frau, wenn man nicht so gerne seine Finger in sich hineinsteckt?
Bryant: Man kann auch mit einem Dildo arbeiten. Aber wir empfehlen den Finger, weil es damit einfacher ist, zu fühlen, wo im vaginalen Kanal man sich gerade befindet. Wir ermutigen die Frauen, ihren Prozess zu notieren, um nachzuvollziehen, wann und wo sich etwas verändert hat. Natürlich ist es schön, Lust zu empfinden. Aber für mich geht es eigentlich um die Ermächtigung von Frauen. Im Bett, im Leben oder etwa auch beim Gynäkologen.
ZEITmagazin ONLINE: Beim Gynäkologen? Wie sollte man sich denn aus Ihrer Sicht anders beim Frauenarzt verhalten?
Bryant: Wir sind ziemlich daran gewöhnt, Autoritäten wie Ärzte nicht infrage zu stellen. Dabei können wir die Spielregeln für einen Termin beim Gynäkologen selbst gestalten. Wir können den Ärzten sagen, wie sie uns berühren sollen. Wie viel Zeit wir brauchen. Es geht darum, die Verantwortung zu übernehmen. So können Frauen ihrem Körper auch die Möglichkeit gegeben, sich sicher zu fühlen und sich zu entspannen.
ZEITmagazin ONLINE: Das klingt, als wollten Sie nicht nur dem Frauenkörper mehr Lust verschaffen. Verstehen Sie Ihre Arbeit auch als einen politischen Akt?
Bryant: Absolut. Es geht für mich um Souveränität, um Verantwortung, um Selbstliebe. Die Frauen, mit denen ich arbeite, berichten, dass sie heute völlig andere Entscheidungen treffen. Frauen kämpfen seit vielen Jahren für ihre Rechte. Und wir gehen wieder einen Schritt tiefer. Es ist ein körperorientierter Feminismus. In den siebziger Jahren wurde die Klitoris befreit. Das war wichtig für Frauen, um überhaupt ein selbstbestimmtes Verhältnis zu Sexualität zu bekommen. Nun befreien wir die Zervix - ohne die Klitoris darüber zu vergessen.