Containern, um Lebensmittel zu retten : Im Abfall abgetaucht
Wenn Alex sich abends die Handschuhe überstreift, dann hat er eine Mission: Er rettet Lebensmittel - und macht sich damit strafbar.
Es ist Freitagabend, 21 Uhr. Die Sonne scheint noch. Der große Parkplatz vor einem Saarbrücker Einkaufsmarkt hat sich geleert. Nur noch vereinzelt parken hier Autos nach der Ladenöffnungszeit. Das Gelände wirkt verlassen.
Alex streift sich durchsichtige Handschuhe über. Solche, wie man sie von der Tankstelle kennt. Sie sind ein bisschen groß, passen dafür aber auf wirklich jede Hand. Dann öffnet er eine der drei großen Mülltonnen hinter dem Saarbrücker Lebensmittelladen und geht auf Tauchgang. Man sieht nur noch seine Beine. Sein Kopf, seine Arme und sein Oberkörper verschwinden in der Tonne. Alex taucht nach Essen, er ist Lebensmittelretter. Er geht mehrmals die Woche „containern". So nennt man die heimliche Suche nach Lebensmitteln in Mülltonnen oder Müllcontainern von Geschäften nach Ladenschluss.
Als Alex wieder auftaucht, hält er Frischkäse, Hüttenkäse und Quark in den Händen. Davon findet er an diesem Abend reichlich. Er reicht es weiter an seine Komplizin Saskia, die in der nächsten Tonne acht Tüten mit Salatherzen findet. „Nimm du sie gerne, ich hab dafür keine Verwendung", sagt sie zu Alex. Saskia heißt in Wirklichkeit nicht Saskia, Alex auch nicht Alex. Die beiden wollen unerkannt bleiben. Denn das, was sie kurz vor Sonnenuntergang an diesem Abend machen, ist illegal.
Immer wieder diskutieren Politiker im ganzen Land darüber, ob es in Ordnung ist, Lebensmittel aus der Tonne zu retten. Gerade erst hat sich der Hamburger Justizsenator Till Steffen (Grüne) dafür eingesetzt, diese Praxis zu legalisieren - und ist damit gescheitert. Die Justizminister der Länder haben auf ihrer Konferenz mehrheitlich beschlossen, dass das Fischen nach Lebensmitteln in Supermarkt-Containern auch weiterhin strafbar bleiben soll. Die Politiker sind mit ihrer Haltung nicht alleine: Auch die Supermarktkette Rewe warnt ausdrücklich davor, Lebensmittel aus den Tonnen zu essen. Es sei nicht immer ersichtlich, ob ein Produkt Kontakt mit Schimmel oder anderer verdorbener Ware hatte, erklärt das Unternehmen auf SZ-Anfrage. Rewe könne dafür keine Verantwortung übernehmen und schließe aus diesem Grund die Müllcontainer ab.
Davon lässt sich Alex aber nicht beirren. Zwei- bis dreimal pro Woche zieht der 30-Jährige los, um in Saarbrücken Lebensmittel aus Containern zu retten - und das seit fast zwei Jahren. „Es gibt eigentlich nur drei bis vier Märkte, zu denen man gehen kann. Bei allen anderen wird der Müll abgesperrt", erzählt er. Alex macht das nicht, weil er nicht genug Geld hat, um sich vernünftig zu ernähren. Nein, er macht es aus Verantwortung unserem Planeten gegenüber. „Ich habe damals eine Doku gesehen, ‚Taste the waste', und habe mich dann viel mehr mit dem Thema auseinandergesetzt", erzählt er, „Ich konnte am Anfang gar nicht glauben, wie viele Lebensmittel wirklich weggeworfen werden." Deshalb findet er es legitim zu containern. Er findet es unerträglich, dass zuhauf gute Lebensmittel weggeworfen werden und nur drei Häuser weiter ein Kind hungern könnte.
Auch die Neugier hat Alex dazu getrieben, sich im Müll der Supermärkte umzuschauen. Er wollte selbst herausfinden, wie viel tagtäglich wegschmissen wird. Im Schnitt findet Alex jedes Mal zehn Kilogramm an Lebensmitteln, die im Müll gelandet sind. Oft müsse er sogar etwas zurücklassen, weil er die Masse an Essen alleine einfach nicht transportieren kann.
Wenn ihn die saarländische Polizei dabei erwischen würde, müsste er mit einer Anzeige rechnen. Containern gilt nämlich laut Polizeipräsidium als Diebstahl und Hausfriedensbruch. Wie oft die Beamten hierzulande einen Lebensmittelretter auf frischer Tat ertappen, kann die Polizei nicht beziffern - Containern wird in der Kriminalstatistik nicht separat erfasst.
Laut einem Bericht der Naturschutzorganisation WWF werden allein im Saarland jährlich etwa 223 000 Tonnen Lebensmittel verschwendet. Deutschlandweit wandern sogar elf Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich in den Müll. „Es ist wirklich ein Unding, dass auf der Welt noch fast eine Milliarde Menschen hungern, und wir leben hier in diesem Überfluss", sagt Alex. Das Thema bewegt ihn, das merkt man ihm an. Alex containert aus Überzeugung. Probleme mit der Polizei habe er noch nie gehabt. Auch von anderen Lebensmittelrettern wisse er, dass die Polizei oft ein Auge zudrücke.
Und dennoch: Ein Restrisiko fischt immer mit. Doch daran denkt Alex nicht, wenn ihm Saskia wie so oft alle möglichen Lebensmittel in die Hand drückt - gerade jetzt gegen halb 10 einen großen Sack mit Rotkohl. Nachdem beide die drei Müllcontainer gründlich inspiziert haben und nur noch eine Flasche Cidre gefunden haben, geht es weiter zur nächsten Station. Alex fährt mit einem Lastenrad, um mehr transportieren zu können. Die Lebensmittel, die er nicht selbst verbrauchen kann, bringt er zum Foodsharing-Fairteiler im Nauwieser Viertel. Oder er fragt mal im Freundeskreis, mal in der Container-Whatsapp-Gruppe nach, wer noch was braucht. Natürlich nur dann, wenn die Lebensmittel noch genießbar sind, erklärt der Projektassistent aus Saarbrücken.
Nächster Stopp für den jungen Mann ist ein großer Markt etwas außerhalb. Hier stehen ebenfalls drei Container und zahlreiche Kisten mit Obst und Gemüse. Auch hier gilt: Nicht alles, was in der Tonne landet, ist auch verdorben. An diesem Markt sind Saskia und Alex nicht alleine. Hier treffen sie Michael, den beide vom Containern kennen. Saskia zieht sich schwarze Handschuhe über, Alex seine durchsichtigen. Und dann geht die Wühlerei weiter. Alex inspiziert zuerst die Kisten mit dem Obst und Gemüse. Die Paletten voller Erdbeeren sind größtenteils verdorben, das Gemüse jedoch nicht.
Währenddessen ist Michael in einen Container geklettert und versucht zu retten, was zu retten ist. „Heute ist die Ausbeute echt mau", sagt Saskia, „normalerweise finden wir mehr". Das liege aber auch an den sommerlichen Temperaturen, die die Lebensmittel leichter verderben ließen, wirft Michael ein. Im Winter könne man sogar Wurst und Fleisch aus den Containern retten. Im Sommer seien die Temperaturen dafür zu hoch. Man könne sich nicht sicher sein, dass das Fleisch noch genießbar ist, sagt Alex. Neben Tomaten, Kohlrabi, Radieschen, und ein paar Äpfeln und Bananen konnten die drei noch Quark, Joghurt, Strudel- und Blätterteig, gemahlene Haselnusskerne und sieben Packungen Schokoküsse retten. „Das teilen wir jetzt untereinander auf", sagt Alex, „jeder nimmt nur so viel mit, wie er auch wirklich verbrauchen kann oder weiterverschenken kann. Den Rest bringe ich zum Fairteiler. Verschmutzte Verpackungen reinige ich dann vorher zuhause." Zu guter Letzt haben die drei noch eine Pizza retten können. Doch sie sind sich nicht sicher, ob diese noch genießbar ist. „Mach mal auf", sagt Michael zu Alex. Die Pizza ist nicht mehr gefroren, sondern schon ganz weich. Die drei sind sich einig, dass sie dieses gerettete Stück Lebensmittel lieber wieder in die Tonne werfen. „Man kann eben nicht alles retten", sagt Alex.
Für heute hat er alles Verwertbare auf sein Lastenrad gepackt. Der Abend ist für ihn vorbei. Alex streift seine Handschuhe ab, wirft sie in den großen schwarzen Container und setzt sich auf die Treppe vor dem Lebensmittelgeschäft. Er wirkt zufrieden mit der Ausbeute, obwohl er sonst noch viel mehr findet. „Es ist dann natürlich auch viel Arbeit alles umzuverteilen und mit anderen Leuten Termine auszumachen, wann sie die Lebensmittel abholen können", sagt der junge Mann. Doch trotzdem denkt er nicht daran, mit dem Containern aufzuhören.
Und das ewige Fischen im Verborgenen? Ist das nicht auf Dauer zu anstrengend? Alex sieht es differenzierter. Auch wenn es ihm das Leben leichter machen würde, ist es aus seiner Sicht nicht die endgültige Lösung, Containern zu legalisieren. Das wäre höchstens ein erster Schritt. Vielmehr wünscht er sich, dass die Supermärkte dazu verpflichtet werden, überschüssige Waren zu spenden. „Die finale Lösung wäre, dass keine Lebensmittel mehr verschwendet werden."