In Saarbrücken startet die SPD ihren Eurowahlkampf. Geballte Parteiprominenz ist angerückt, doch ach, das Timing: Die Zuschauer bejubeln nur einen.
Von Jan Söfjer, Saarbrücken
Eigentlich sind Katarina Barley und Udo Bullmann die Stars dieser Veranstaltung, doch als Kevin Kühnert am Freitagnachmittag die Bühne vor dem Staatstheater in Saarbrücken betritt, scheint es, als hätten alle nur auf ihn gewartet.
Nicht auf die Spitzenkandidaten, mit denen die SPD hier ihren bundesweiten Europawahlkampf beginnt. Beinahe frenetischer Jubel bricht unter den sicherlich 200 Zuschauern aus. Es kann nur mit Kühnerts jüngsten Äußerungen zusammenhängen: Großunternehmen wie BMW kollektivieren, keine privaten Vermietungen mehr. Die einen fallen über ihn her, die anderen bejubeln ihn.
Hier in Saarbrücken ist Kühnert der Star. Nicht nur die Jusos umringen ihn. Seine Fans wollen Autogramme und machen Fotos mit ihm. Dabei spricht er am Freitag die umstrittenen Themen gar nicht an - außer mit seinen Fans unter vier Augen, versteht sich. Auf Nachfrage möchte er nichts dazu sagen. "Das ist hier nicht der Rahmen dafür."
Auf der gesamten Wahlveranstaltung fällt nicht einmal ein Wort zu Kühnerts Äußerungen. Und die SPD hat einiges aufgeboten an Personal: Außenminister Heiko Maas etwa, Finanzminister Olaf Scholz, die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles und der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Unter den Gästen befinden sich SPD-Hessen-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel und der ehemalige Bundesminister und Saarland-Ministerpräsident Reinhard Klimmt. Die Vorsitzende der Saar-SPD Anke Rehlinger und die SPD-Oberbürgermeisterin von Saarbrücken Charlotte Britz sind auch gekommen. Sie machen ihre Wahlkampf-Show.
Nahles will in jedem Land in Europa einen Mindestlohn, von dem die Menschen leben können. Und den gebe es natürlich nur mit der SPD. Maas spricht über das Friedensprojekt Europa, Olaf Scholz bekennt sich beim Thema "gleiches Gehalt für Männer und Frauen" als Feminist. Jo Leinen sagt, die SPD sei nicht nur die Europapartei, sondern auch die Klimaschutzpartei. Udo Bullmann sorgt sich um die "schleichende Orbánisierung der Christdemokratie" und den EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani, "der darüber redet, was Mussolini geleistet hat".
Katarina Barley hingegen erzählt als einzige "Geschichten von Europa". Sie erzählt von Erasmus-Babys. Sie hat selber welche bekommen. Ihren Mann lernte sie beim Studienaufenthalt in Paris kennen. Er ist halb Niederländer, halb Spanier. Barleys Eltern Eltern kommen aus England und Deutschland. Barleys Kinder haben Großeltern aus vier Staaten. Ihr britischer Großvater sei ein Fan der englischen Bomber gewesen, ihre deutsche Großmutter hat sie gefürchtet. Barley ist Juristin aus Leidenschaft. Doch wenn sie über Europa spricht, dann glaubt man ihr, dass sie bereit ist, ihr Amt als Justizministerin aufzugeben, um der für sie größeren Sache Europa zu dienen.
Sie sorgt sich um Kräfte, die "Europa abschaffen wollen". Barley ruft die Menschen dazu auf, mehr über Europa zu sprechen, eigene Europageschichten zu erzählen.
Nach der Veranstaltung äußert sich Barley auf Nachfrage dann doch zu Kühnerts Äußerungen. "Er ist Juso-Chef und dazu gehört, dass er Sachen zuspitzt und auch mal etwas Provokatives raus haut. Es ist eine Vision. Aber das ist ja auch eine Aufgabe von Jugendparteien." Ihr Kollege Bullmann sagt: "Ich glaube, dass Kevin eine wichtige Debatte angestoßen hat: die eklatante Schere zwischen Reich und Arm, zwischen denen, die nicht wissen, wohin mit dem vielen, das sie haben und denen, die nicht wissen, wie sie ihre Wohnung bezahlen sollen. Im Kern geht doch um die Frage, wie man in einer modernen Gesellschaft das öffentliche Wohl sicherstellt."
Die Zuschauerin und SPD-Wählerin Charlotte Schneiders, 28, sitzt in der ersten Reihe und klatscht laut. Sie wundert sich über das Medienecho, dass Kühnert hervorgerufen hat, "was aber nicht heißt, dass ich seine Äußerungen unterstütze". Die Wahlveranstaltung fand sie überraschend kämpferisch. Sie kümmert sich bei der IHK um Auslandsaufenthalte, Europa ist ihr wichtig.
SPD-Mitglied Karl-Heinz Jürgen, 67, ist hingegen ein echter Kühnert-Fan. "Kühnert ist für mich die Zukunft. Ein toller Mann." Die Themen, die er angestoßen habe, werden seit Jahren hin und hergeschoben, bezahlbare Mieten gebe es kaum noch. SPD-Stadtratskandidatin von Völklingen, Britta Klöttschen-Seith, sagt: "Es reicht nicht zu fragen, was Kevin Kühnert geraucht hat. Er hat wichtige Dinge thematisiert. Wie kann es sein, dass manche Menschen soviel Geld damit verdienen, dass andere keine Wohnung haben?" Es gebe auch eine Grenze von Privatisierungen. "Diesen Diskussionen müssen wir uns stellen."
Kevin Kühnert ist noch da, als die anderen Politiker schon alle gegangen sind. Er trinkt ein Bier und unterhält sich mit den Menschen über große Themen. "Das solidarische Europa ist das, was heute fehlt", sagt Kühnert. Die Europäische Union würden viele für eine gute Idee halten, doch nicht, wie sie ist. "Viele sagen: 'Für mich zahlt sich Europa noch nicht ausreichend aus.'''
Die EU, das sei eine Wertegesellschaft und das heiße nicht nur Demokratie und Menschenrechte. Es gehe auch um Gerechtigkeit. "Amazon und Starbucks zahlen keine ordentlichen Steuern bei uns. Global agierende Konzerne sind so mächtig, dass der einzelne Nationalstaat ihnen fast schon hilflos gegenüber steht. Aber eine Gemeinschaft von 500 Millionen Menschen ist mächtig. Und wenn die sich auf Mindeststeuersätze einigen, ist das eine Ansage."
Die Menschen würden sich fragen, wie wirksam die EU eigentlich sei, wenn sie es nicht schaffe, so etwas anzugehen. "Das soll aus unserer Sicht das Thema der Europawahl sein." Ein kämpferisches Brüssel. Zusammenhalt. Solidarität. Dafür provoziert Kühnert gerne.
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