Viereinhalb Jahre lang war der Saarburger Zimmermann Peter Wagner auf der Walz. In dieser Zeit hat er viel gesehen von der Welt. 49 Gesellen haben ihn nun nach Hause begleitet.
Von Jan Söfjer
Viereinhalb Jahre lang hat Peter Wagner keine Jeans getragen. Nun läuft er durch seine Wohnung und flucht. Die Hose sitzt nicht richtig. Auch der Stoff ist ihm zu dünn. „Da spürst du jeden Luftzug." Nicht wie bei der dicken maßgeschneiderten Cordhose, in der er die letzten Jahre herumgelaufen ist. Bei minus 15 Grad in Wien wie bei plus 45 Grad in Südafrika.
Peter Wagner war auf der Walz. Seit einigen Wochen ist der Zimmermann wieder zu Hause in Saarburg. Er hat sich gut eingefunden, bis auf die Sache mit den Jeans. Auch sonst passt ihm nichts mehr. Mehr als zehn Kilo hat er unterwegs zugenommen. Auch vorher wog der 2,02 Meter große 27-Jährige schon 120 Kilo. Seine Eltern Peter und Christel und seine Schwester Marion staunten, als sie ihn sahen. Vier Mal haben die Eltern ihn besucht. In Hamburg, Stuttgart, Kiel und Neustadt an der Weinstraße. Peter durfte seiner Heimatstadt nicht näher als 50 Kilometer kommen. Der Bannkreis für die Zeit der Wanderschaft. Das besagt das wichtigste Gebot eines Wandergesellen. Die Gesellen zeichnen den Kreis in eine Karte ein, damit sie ihn bloß nicht aus Versehen übertreten. Manche haben Alpträume deswegen. Bannkreisträume.
Bei ihren Regeln verstehen die Wandergesellen und ihre Vereinigungen keinen Spaß. Zwar würde einem Gesellen, der sich unehrenhaft verhalten oder gar die Walz abgebrochen hat, vielleicht nicht mehr der Ohrring herausgerissen werden (daher kommt der Begriff Schlitzohr), aber der Ruf wäre dahin. „So jemand wäre für mich gestorben", sagt Peter Wagner.
Zuerst hatte er eine Ausbildung zum Anlagemechaniker für Sanitär, Heizung und Klima begonnen, doch er saß nur herum oder machte monatelang Inventur. „Das war keine Ausbildung." Nach einem Jahr bricht er ab und macht ein Praktikum bei Zimmerei & Holzbau Stephan Plunien in Wiltingen. Als Jugendlicher hatte er Höhenangst, doch sie legt sich. „Ich fand die Aussicht vom Dach so schön und wollte was mit Holz machen." Er beginnt die Lehre und trifft dabei Gesellen, die auf Wanderschaft vorbeikommen. Er ist fasziniert von der Idee, Teil dieser alten Tradition zu sein, durch die Welt zu reisen, viel zu erleben und sein handwerkliches Können zu erweitern.
„Je mehr Gesellen kamen, desto mehr ist die Idee in Peter gereift, selbst auf die Walz zu gehen", sagt seine Mutter. Noch während der Ausbildung verbringt er viel Zeit mit den Rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen, einer Vereinigung von Gesellen, die auf der Walz waren oder auf die Walz gehen wollen. Im Juli 2014, zwei Tage nach der bestandenen Gesellenprüfung, wird Peter aufgenommen und erhält den schwarzen Schlips, die sogenannte Ehrbarkeit. Nun gibt es kein Zurück mehr.
Am 5. Oktober 2014 umarmt Peter Wagner seine Eltern am Ortsschild von Saarburg und geht los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Zwei Gesellen, Thomas und Alexander, begleiten ihn. Bringen ihn los, wie es heißt. Den nächsten Monat zeigen sie ihm, wie man sich auf Wanderschaft durchschlägt. Denn es gibt ein paar Regeln. Bis auf Notfälle dürfen sie nicht für eine Unterkunft bezahlen, auch nicht für das Reisen. Heißt, sie müssen zu Fuß gehen, trampen und schauen, wo sie schlafen können.
Natürlich können sie sich immer Arbeit suchen. „Aber ich möchte ja nicht ständig arbeiten", sagt Peter. Wenn er in eine neue Stadt kommt, geht er zuerst zum Rathaus, sagt seinen Wandergesellenspruch auf, bekommt einen Stempel in sein Wanderbuch und eine kleine Reiseunterstützung, etwa in Form einer Flasche Wein oder etwas Handgeld, und dann geht es meistens direkt in die nächste Kneipe. In der Hoffnung, dort jemanden zu treffen, der einem einen Schlafplatz anbietet, also zumindest ein Stück Fußboden mit Dach drüber. Mehr braucht ein Geselle nicht. Den Schlafsack hat er dabei.
Peter kommt am ersten Tag bis München. „Das war die große Welt." Davor war er kaum über Koblenz hinausgekommen. Das Oktoberfest läuft noch. Abends legt er sich zum Schlafen in den Japanischen Garten. Er zieht weiter nach Österreich und arbeitet ein paar Wochen in einer Zimmerei in Markt-Alhau bei Graz. Es wird kälter. Dann kommt Silvester in Wien. Es ist minus 15 Grad. Peter ist mit einem Kameraden unterwegs.
Sie haben praktisch kein Geld mehr und seit mehr als zwei Tagen fast nichts gegessen noch geschlafen. Sie schauen in einer U-Bahn-Station vorbei, „doch da waren 50 Obdachlose am Saufen", sagt Peter. Sie laufen weiter. Am nächsten Tag telefonieren sie herum und finden über einen Bekannten von der letzten Arbeitsstelle jemanden, der sie aufnimmt. Peter beschließt, die Winter nicht mehr in diesen Breitengraden zu verbringen.
Er reist viel herum. In wenigen Tagen kommt er von Würzburg nach Celle, Mannheim, Bruchsal, Taucha bei Leipzig, in den Harz, Braunschweig, Hannover, Rostock. Die Gesellen sind frei und wollen was sehen. Meistens reisen sie zu zweit. Peter lernt viel von anderen. „Ich bin eineinhalb Jahre mit einem Schreiner gereist." Von ihm lernt er, wie man Holzoberflächen fein wie Glas schleift. In Hameln kommt er bei der Familie einer Bekannten unter und verliebt sich in die jüngste Tochter. Trotz Wanderschaft bleiben sie zwei Jahre lang ein Paar. In 15 Orten wird er in viereinhalb Jahren arbeiten, aber nie länger als ein halbes Jahr am Stück, meistens eher einige Wochen.
Grob 400 Städte und Gemeinden besucht er. Das bezeugt sein Wanderbuch der Conföderation Europäischer Gesellenzünfte (CCEG). „Rund ist die Welt, drum Brüder lasst uns reisen", heißt es darin. Er bereist Österreich, Dänemark, die Schweiz, Schweden, Lesoto, Namibia, Chile und Südafrika. Dorthin fliegt er mit drei Zimmerern und einem Tischler im Winter 2015/2016 für vier Monate.
Peter erinnert sich an Elefanten, Moskitos, das Meer, freundliche Menschen und die Hitze. „Es war sehr heiß, bis zu 45 Grad." Und als Wandergeselle muss er in der Kluft aus schwarzem Cord reisen und arbeiten. In Windhoek, Namibia, baut er an einem dreistöckigen Fachwerkhaus mit, einem Anbau für das Hotel „Roof of Africa".
Im Winter drauf - Peter arbeitet gerade in Sankt Gallen, und es wird schon wieder kalt - will er eigentlich nach Asien, doch es kommt anders. Ein anderer Wandergeselle erfährt, dass eine Firma in Chile Arbeit hat. Peter soll ihm mal seine Passnummer geben. Bevor er etwas sagen kann, haben er und zwei Kameraden den Flug bezahlt bekommen. Mit dabei ist Tim Tüchsen, mit dem Peter rund zwei Jahre reisen wird. Der sagt: „Die Chilenen können nichts mit der Wanderschaft anfangen. Aber wir wurden immer gut aufgenommen." Peter gefällt es so gut, dass er noch ein zweites Mal hinfliegen wird.
„Es war etwas komisch, dass man ihn unterwegs nicht erreichen konnte", sagt Peters Mutter Christel. „Es gibt ja auch kaum noch Internet-Cafés." Wandergesellen dürfen kein Handy besitzen. „Ich habe ihm die Zeit gegönnt", sagt Peters Vater Peter Wagner senior. „Wenn man das nicht macht, wenn man jung ist, kriegt man die Erfahrung nicht." Er selber war nicht auf der Walz. 1968, als er seine Lehre zum Tischler beendet hat, waren viel weniger Gesellen auf Wanderschaft. „Wir hatten einen 73-Jährigen im Betrieb, der auf Wanderschaft wegen einer Frau hängengeblieben war. Sonst hätten wir nichts von der Walz gewusst."
Durch die Walz ist Peter selbstbewusster und eigenständiger geworden. Wenn ihn etwas nervt, dann sagt er das nun. Obendrein hat er ein bisschen Spanisch gelernt und sein Englisch verbessert. Und er möchte noch seinen Meister machen. Vorher hatte er dieses Ziel nicht. Seine Sicht auf die Welt hat sich nicht verändert: „Sie ist rund wie vorher auch."
Am 13. April 2019, einem Samstagnachmittag, stehen Dutzende Menschen am Ortsrand von Saarburg und warten darauf, dass Peter nach Hause kommt. Gegen 16 Uhr soll er kommen, an der Saar entlang. Doch er kommt nicht. Zwei Stunden vergehen, bis ein Trupp von 50 Gesellen am Flussufer auftaucht, darunter Zimmerleute, Tischler, Dachdecker, Schlosser.
Sie lassen sich Zeit. Sie gehen hintereinander im Spinnermarsch und singen Lieder. Ein Wandergesellenritual. Tim Tüchsen geht voran. Peter hinter ihm. Tüchsen hat seine Wanderschaft vor zwei Jahren beendet und ist extra von der deutsch-dänischen Grenze angereist, um Peter nach Hause zu bringen. Mehrmals bilden sie einen Kreis. Gesellen erzählen Geschichten, was sie mit Peter erlebt haben. Außenstehende müssen Abstand halten. Eine Weinflasche geht herum. Auch Sönke Oltmann ist dabei. Peter hatte ihn im vergangenen Oktober den ersten Tag begleitet, als dieser von zu Hause aufbrach. Nun begleitet dieser Peter heim.
Der Saarburger Bürgermeister Jürgen Dixius ist gekommen. Immer mal wieder empfängt er Gesellen auf der Walz, „aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Es ist schön zu sehen, wie diese Kameradschaft funktioniert und mit welchen Ritualen ein Geselle aus seiner Wanderschaft entlassen wird“, sagt Dixius. Die letzten Meter geht Peter alleine, nimmt seine Eltern und seine Schwester in den Arm. Zu Hause wird gefeiert. Draußen. Es ist bitterkalt an dem Abend. Aber die Gesellen kümmert das nicht. Mehr als 40 Flaschen Korn und 200 Liter Bier werden sie leeren. Peter sticht ein Fass an und füllt ein Zwei-Liter-Glas. Alle stehen um ihn herum. Er strahlt. Mit der Flachen Hand schlägt er auf das Glas, der Schaum spritzt. „Prost, Gesellen!“, ruft Peter. 50 Mann antworten: „Prost, Kamerad!“ Peter trinkt. Die Walz ist vorbei.
--
Die Regeln der Walz
Die Walz kam mit den ersten Dombauten und wandernden Steinmetzen vor etwa 1000 Jahren auf. Auf Wanderschaft darf gehen, wer einen Gesellenbrief im Handwerk erworben und nicht älter als 30 Jahre ist. Zudem darf man nicht verheiratet sein, keine Kinder und keine Schulden haben, um sich keiner Verantwortung zu entziehen. Vom Spätmittelalter bis Mitte des 18. Jahrhunderts war die Walz Voraussetzung für Gesellen, um eine Meisterprüfung zu beginnen. Die Wanderschaft geht mindestens drei Jahre und einen Tag, also einen Tag länger als die Ausbildung. Nur bei der Gesellenbruderschaft Freie Vogtländer dauert sie ein Jahr weniger. In dieser Zeit darf sich der Geselle seinem Heimatort in einem Radius von 50 Kilometer nicht nähern. Ausnahme sind schwere Krankheit oder Tod von engen Familienangehörigen. Die Gesellen arbeiten für einen tarifähnlichen Lohn und Unterkunft, lernen regionale Unterschiede im Handwerk kennen und erweitern ihr Wissen. Sie bleiben maximal ein paar Monate bei einem Arbeitgeber. Ein Handy und ein eigenes Fahrzeug sind verboten. Öffentliche Verkehrsmittel über längere Strecken sind verpönt, fliegen in andere Länder aber möglich. Für Unterkünfte darf nicht bezahlt werden. Es gilt: Vernunft vor Zunft. Bevor ein Geselle im Winter erfriert, geht er in eine Herberge.
Der Wandergeselle muss in der Öffentlichkeit stets seine Kluft tragen und sich ehrbar verhalten. Viele Gesellen treten einer Wandergesellen-Vereinigung bei. Die ersten entstanden Mitte des 14. Jahrhunderts. Wie viele Gesellen auf Wanderschaft sind, ist schwer zu bestimmen. Es sind mindestens etliche Hundert.
Die Kluft
Kluft nennt man die Tracht der Wandergesellen. Sie besteht aus einem schwarzen Hut, der für den freien Menschen steht, Hose, Weste und Jacke zumeist aus Cord, einem kragenlosen, weißen Hemd sowie dunklen Schuhen oder Stiefeln. Mitglieder einer Wandergesellenvereinigung tragen einen Schlips (Ehrbarkeit). Die Farbe der Kleidung hängt vom Gewerk ab. Schwarz für Holzberufe, blau für Metallberufe, grau oder beige für Steinberufe, rot für Textilgewerke, schwarz-weiß-kariert für das Lebensmittelhandwerk. Die Weste hat acht Knöpfe für acht Stunden Arbeit am Tag, die Jacke sechs Knöpfe vorne für ursprünglich sechs Tage Arbeit die Woche und je drei Knöpfe an den Ärmeln für je drei Jahre Lehre und Wanderschaft. Ihr Gepäck tragen die Gesellen in einem Tuch eingewickelt, dem Charlottenburger. Dazu haben sie einen Wanderstab, den Stenz.