Mitte Juli ließen sich in Kiesdorf in der Oberlausitz Dutzende Menschen eine Corona-Impfung verabreichen. Allerdings keine normale: Ihr Vertrauen in das Medikament gewannen die Impfwilligen und die Ärzte, die das Vakzin spritzten, nicht aus klinischen Studien – ihnen genügte das Versprechen des Mediziners, Wissenschaftlers und Multimillionärs Winfried Stöcker.
Er hat den Impfstoff, den er die „beste Covid-19-Impfung“ nennt, erfunden. Gegen ihn wird ermittelt.
„Die halb geheime Aktion erinnert an die Flüsterkneipen zur Zeit des Alkoholverbots in den USA der 1920er-Jahre“, sagt Joachim Schulze, Grünen-Abgeordneter im nahe gelegenen Görlitz. Er fordert, die Behörden müssten Stöcker aufhalten.
Stöcker gibt an, dass schon mehr als 1000 „überglückliche“ Personen geimpft worden seien. Dass sich die „Stöcker-Jünger“, wie Schulze sie nennt, in der Lausitz trafen, ist kein Zufall. Dort wurde der Lübecker Unternehmer 1947 geboren; zuletzt investierte er unter anderem in die Sanierung des berühmten Görlitzer Warenhauses und in ein Strandbad. Schulze erklärt: „Für viele ist er eine Lichtgestalt – auch weil sie seinen Weg als Protest gegen das System verstehen.“
Stöcker ist Mediziner, arbeitete lange an der Lübecker Universität, hält mehrere Patente und führte sein 1987 gegründetes Pharma-Unternehmen Euroimmun derart erfolgreich, dass er es 2017 für 1,3 Milliarden Euro verkaufen konnte. Nach wie vor besitzt er ein Labor in Lübeck. Nach eigener Darstellung hat der Unternehmer dort im Frühjahr 2020 ein Antigen entwickelt, das er, kombiniert mit einem Adjuvans, einem unterstützenden Hilfsstoff, erst sich selbst und dann 100 Freiwilligen verimpfte – darunter viele Angestellte seines Labors.
Umstritten ist er auch politisch. Er sprach 2014 etwa von „Türken, die sich in Deutschland festsetzen“ – entschuldigte sich dafür später. Ein Jahr darauf forderte er in seinem Blog angesichts der Migrationskrise den „Sturz der Kanzlerin Merkel“. Das ehemalige FDP-Mitglied spendete 2019 der AfD 20.000 Euro.
Kubicki ist sein Anwalt
Bereits im April berichtete WELT AM SONNTAG darüber, dass der Streit Stöckers mit dem für die Zulassung von Impfstoffen zuständigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) eskalierte. Nach der Impfung der 100 Freiwilligen in Lübeck seien bei 97 Corona-Antikörper im Blut nachgewiesen worden, bei „der Mehrheit“ zudem T-Zellen, die ähnlich wie Antikörper eine Immunantwort des Körpers auf Sars-CoV-2 sind und Schutz vor einer Erkrankung bieten, allerdings meist länger im Blut nachweisbar sind.
Genauere Angaben existieren nicht. Stöcker, so wird ihm vorgeworfen, halte sich nicht an das Arzneimittelgesetz. Wie wirksam das Vakzin tatsächlich ist, bleibt unklar – datenbasierte Evidenz fehlt.
Der Charité-Virologe Christian Drosten, dem Stöcker unaufgefordert eine eigene Blutprobe zugeschickt hatte, sagte im März: „Der bloße Nachweis von Antikörpern ist keine Bestätigung der Wirksamkeit eines Impfstoffs.“ Er habe Stöcker darauf hingewiesen, dass Qualitätsprüfungen und Studien erforderlich seien.
Stöckers Version geht so: Er habe den Bauplan für einen simpel herstellbaren Impfstoff, der Millionen Menschen „immunisieren“ könne – und verlange dafür kein Geld. Das „innovationsfeindliche“ Paul-Ehrlich-Institut habe die Entwicklung ausgebremst.
Die Behörde stellte schon im Oktober 2020 Strafanzeige: Aus ihrer Sicht hat Stöcker fahrlässig gehandelt, man habe ihn frühzeitig auf einen Bruch des Arzneimittelgesetzes hingewiesen. Es ist abzuwarten, ob es sich um einen solchen handelt. Die Ermittlungen laufen noch, wie die Staatsanwaltschaft Lübeck mitteilt – im schlimmsten Fall droht Stöcker eine Haftstrafe. Juristisch vertritt ihn Anwalt und FDP-Vize Wolfgang Kubicki.
„Es sind alle grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen aufzuheben“
Die Inzidenz ist deutschlandweit niedrig und sinkt weiter. Daher pocht Wolfgang Kubicki auf die Rechtsgrundlage und betont: „Möglich ist eigentlich wieder alles.“ Darüber und über den neuen digitalen Impfpass spricht der stellvertretende FDP-Vorsitzende im WELT-Interview.
Quelle: WELT
Ärzte, die den Impfstoff nun verabreichen, machen sich womöglich ebenfalls strafbar. Die sächsische Landesärztekammer sieht dennoch keinen Grund zum Handeln. Ihr Präsident Erik Bodendieck spielt den Ball der Polizei und den Gesundheitsämtern zu – die sind aber auch nicht tätig geworden. Bodendieck stellt klar: „Sollten uns Namen von beteiligten Ärzten bekannt werden, würden wir sofort eine berufsrechtliche Prüfung vornehmen.“
Genau das könnte bald passieren. Einem Bericht des MDR zufolge hat die Staatsanwaltschaft Görlitz nun die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz aufgenommen – gegen Unbekannt.
Vorwürfe gegen „Pharmakonzerne“
Stöcker sagt, alles laufe legal ab, scheint sich der rechtlichen Grauzone aber wohl bewusst zu sein. Obwohl Hunderte Interessenten – auch Ärzte und Heilpraktiker – eine Impfung auf seinem Blog nachfragen, nennt er nur zwei Mail-Adressen zur Bestellung. Hinter diesen steckt der Salzburger Onlinevertrieb Medidoc, der auf seiner Website vor allem Schnelltests anbietet. Statt von einem Impfstoff ist dort etwas über eine „Antigen biochemische Substanz W1-X5“ zu lesen – mit dem Hinweis „für wissenschaftliche Zwecke und Laborverwendungen“.
Laut Impressum residiert Medidoc auf dem Techno-Z-Campus, im Verzeichnis dieses Technologieparks ist die Firma allerdings nicht gelistet. „Wir haben keinen Vertrag mit einem Mieter mit diesem Firmennamen“, sagt eine Sprecherin auf Anfrage.
Medidoc beantwortet Fragen, wo und wie das Antigen hergestellt werde, nicht, ebenso wenig zum Firmensitz. Man führe „nur logistische Funktionen“ für Stöcker durch, heißt es dort. Statt Transparenz zu schaffen, schaltet das Unternehmen in den Angriffsmodus: „Wir untersagen Ihnen, unseren Firmennamen namentlich zu erwähnen.“
Winfried Stöcker schreibt in seinem Blog über „Pharmakonzerne“, die dank Deals mit reichen Staaten Milliarden durch ihre „experimentellen und genbasierten Impfstoffe“ scheffelten. Ein Narrativ, das viele seiner Anhänger übernehmen. Medien wie der kremltreue Sender RT Deutsch schlagen ähnliche Töne an. Dabei ist Stöcker selbst ein millionenschwerer Pharmaunternehmer. Er hält mehrere Patente, kennt sich mit Herstellung und Zulassung von Pharmazeutika also bestens aus.
Spricht man ihn auf Versäumnisse an, reagiert er aufbrausend. Impfstoffe, die getestet und mittlerweile millionenfach verabreicht wurden, diffamiert er, spricht von „entzündungsfördernden“ Inhaltsstoffen und nennt etwa das Biontech-Vakzin „Brühe“. Juristisch sieht sich Stöcker durch den Paragrafen über „individuelle Heilversuche“ im Arzneimittelgesetz abgesichert. Dabei geht er über die Frage hinweg, die sich eigentlich zuvörderst stellen müsste: Wie soll eine Impfung eine Behandlung sein, wenn gar keine Diagnose vorliegt?
Stöcker argumentiert weiter: „Bei der Behandlung seiner Patienten darf dem Arzt niemand reinreden. Das ist geltendes Recht.“ Im Übrigen brauche ein Arzt keine Erlaubnis, sofern er ein Arzneimittel zum Zweck „der persönlichen Anwendung bei einem bestimmten Patienten“ herstellt. Aber gilt das auch bei Massenimpfungen?
Derlei Punkte müsste die zuständige Landesärztekammer beantworten. Sie weicht aber auf Nachfrage aus. Was rechtlich für Stöcker spricht: Die Impfwilligen haben ihm zufolge eine Einverständniserklärung unterschrieben. Es handele sich zum größten Teil um „Freunde und frühere Mitarbeiter“.
Es bleibt eine ambivalente Angelegenheit: Stöckers Vakzin könnte ein wirksames Mittel sein, das schwere Covid-Verläufe verhindert – was eine herausragende wissenschaftliche Leistung wäre.
Nur: Die Beweise für eine solche Schutzwirkung fehlen bis heute. Schon im März sagte das Paul-Ehrlich-Institut, für eine Zulassungsstudie sei es nicht zu spät.
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