Die Szene auf dem vergilbten Schwarzweißfoto erzählt von einer glücklicheren Zeit. Etwa 30 Jungen sind auf dem Hof des ehemaligen Kinderheims an der Ebersheimstraße zu sehen, sie spielen oder unterhalten sich zwischen blühenden Linden. Zwei der Kinder laufen Arm in Arm über das Gelände, ein anderes blickt neugierig in Richtung Kamera.
Derselbe Innenhof mehr als 80 Jahre später: Wo einst die Linden standen, parken Autos, und als sich Till Lieberz-Groß dem Haus mit der Nummer Fünf nähert, zieht jemand im Inneren die Gardinen zu. „Heute wissen nur noch wenige, was hier nach der Reichspogromnacht passierte", sagt sie nachdenklich und blickt auf die weiße Fassade, an der große Überwachungskameras hängen. „Kaum etwas erinnert an das Heimpersonal oder die Schicksale der Kinder."
Wie viele Heimkinder die Jahre des Nationalsozialismus überlebten, lässt sich nur schwer sagen, aber Lieberz-Groß kennt eine andere Zahl: Etwa 20 000 jüdische Minderjährige wurden im „Dritten Reich" durch Transporte ins Ausland vor den Konzentrationslagern gerettet, die meisten vom Frankfurter Hauptbahnhof aus. „Ein Kapitel der NS-Geschichte, über das heute nur wenig gesprochen wird", sagt die ehemalige Schulleiterin, die mittlerweile im Ruhestand ist. Deshalb hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung am Leben zu halten. Mehr als drei Jahre führte Lieberz-Groß Interviews mit Überlebenden, besuchte Zeitzeugen im In- und Ausland, durchforstete Dokumente in Archiven. Zusammen mit acht weiteren Autorinnen brachte sie vor kurzem ein Buch heraus, das die Biographien einiger Geretteter nachzeichnet. Der Titel: „Rettet wenigstens die Kinder".
„Jüdisches Leben in Frankfurt"Etwa 40 Jungen beherbergte das Heim der jüdischen Flersheim-Sichel-Stiftung im Stadtteil Dornbusch um 1938. Heutzutage sind Wohnungen in dem Gebäude, im Erdgeschoss praktiziert ein Augenarzt, der das Haus Ende der neunziger Jahre von der Stadt kaufte. Den Anstoß von Lieberz-Groß, eine Gedenktafel an der Hausmauer aufzuhängen, lehnte der Arzt ab. Stattdessen soll nach langem Hin und Her im Frühling, sobald es wärmer wird, einige Meter weiter auf einem Grünstreifen ein Denkmal an die geretteten Heimkinder in den Boden gelassen werden.
Das städtische Kulturamt unterstützt den Vorschlag, und der zuständige Ortsbeirat im Stadtteil Dornbusch hat schon Geld bereitgestellt. Für Lieberz-Groß ist das ein Kompromiss, viel mehr aber eine Genugtuung in letzter Minute. „Denn schon bald leben keine Zeitzeugen mehr." Deshalb fassten Lieberz-Groß, Mitherausgeberin Angelika Rieber und der Verein „Jüdisches Leben in Frankfurt" schon vor mehr als drei Jahren den Beschluss, die Geschichten derer zu erzählen, die überlebt haben.
Irgendwo im weitverzweigten Stammbaum von Till Lieberz-Groß seien auch jüdische Vorfahren zu finden, erzählt die Einundsiebzigjährige in einem Café nahe dem ehemaligen Kinderheim. Sie selbst ist nicht jüdisch, ihre Motivation für die Buchrecherche rührt anderswo her. Als geschichtsinteressierte Lehrerin leitete sie in den achtziger Jahren deutsch-israelische Bildungsseminare, die die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft organisierte. Es ging hauptsächlich darum, in welcher Form der Holocaust in den Lehrplänen behandelt werden sollte. „Auch wir Lehrer müssen Verantwortung übernehmen", sagt die frühere Schulleiterin. Bis heute organisiert sie Schulbesuche von Überlebenden des Naziterrors.