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Was "50 Shades of Grey" mit echtem BDSM zu tun hat

Millionen schauen die „50 Shades of Grey"-Filme. Öffentlich über BDSM reden will aber kaum jemand. Wie kommt es, dass man auf Schmerzen stehen kann?

Stuttgart - Anastasia ist nackt. Sie beugt sich nach vorne, stützt sich auf ihre Arme. Christian steht hinter ihr, atmet schwer: „Ich werde dich jetzt sechsmal schlagen, und du wirst mit mir zählen." Dann schlägt er sechsmal mit einem Ledergürtel auf ihren Po. Und Anastasia und die Zuschauer zählen mit. In der siebten Woche nach dem Filmstart rangiert „50 Shades Of Grey - Gefährliche Liebe" immer noch auf Platz acht der Kinocharts. Das Spiel mit Schmerz, Lust und Macht scheint die Deutschen zu faszinieren, mit den Büchern und Filmen ist es ein Stück weiter in die Öffentlichkeit gerückt. „In der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist das aber immer noch etwas Verbotenes", sagt Sexualwissenschaftlerin Kirstin Linnemann, die an der Universität Kassel darüber ihre Dissertation schreibt.

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Was die beiden Protagonisten in „50 ­Shades Of Grey" treiben, fällt unter den Begriff BDSM und wird so oder so ähnlich tausendfach in Deutschland praktiziert. BDSM vereint - grob gesagt - eine Gruppe von Menschen, die es erregt, wenn sie jemandem Schmerz zufügen oder selbst Schmerz erfahren. Es ist kein Massenphänomen, aber dennoch eine Nische, die mehr Menschen für sich einnimmt, als man vielleicht meinen würde. Laut einer Forsa-Umfrage des „Sterns" aus dem Jahr 2015 haben immerhin 15 Prozent der Deutschen schon einmal BDSM-Praktiken ausprobiert. In einer Online-Umfrage von 2014 fragte der kanadische Psychologe Christian Joyal zudem nach sexuellen Fantasien. 44 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen gaben an, schon mal davon fantasiert zu haben, eine andere Person beim Sex zu schlagen. Etwa die Hälfte der 1500 Teilnehmer berichtete außerdem von Tagträumen mit Fesselspielen.

Schmerz steht nicht im Mittelpunkt

BDSM in wenigen Sätzen exakt zu beschreiben sei kaum möglich, meint die Sexualwissenschaftlerin Linnemann. Bei manchen bezeichne es die Art, wie sie Sex haben, bei manchen die ganze Lebensweise. „Das Thema hat so viele Ebenen, dass man sie schwerlich zusammenfassen kann", sagt Kirstin Linnemann.

Doch wie kommt es überhaupt, dass man Schmerz als erregend empfinden kann? Die Sexualwissenschaftlerin beschreibt die Schmerzlust als einen Entwicklungsprozess: „Das beginnt vielleicht mit einem Klaps auf den Po, den wahrscheinlich fast ­jede Frau als lustvoll erlebt, und steigert sich dann." Wie lange etwas angenehm sei, sei ­etwas sehr Individuelles.

Jemand, der BDSM selbst regelmäßig erlebt, ist Günther (Name geändert). Günther ist 65, Künstler und organisiert den BDSM-Stammtisch in Stuttgart. Ein Zahnarzt­besuch sei für ihn und seine Leidensgenossen genauso unangenehm wie für jeden anderen auch. In Sachen Sex aber verbindet er Schmerz mit Lust. BDSM bedeutet für ihn eine Verfeinerung der Sexualität, eine ­erotische Kunstform. Dabei gehe es sehr ­selten wirklich um Schmerzlust: „Das Herzstück von BDSM ist für mich Macht und Ohnmacht." Der Lustschmerz stehe dabei nicht im Vordergrund. Günther beschreibt es als eine starke Sehnsucht nach einem Sich-Hingeben, nach besonders starker Zweisamkeit. „Es geht viel um Fürsorge", sagt auch Linnemann. Eine Vorstellung, die wohl für viele ein Widerspruch ist. Wie kann man sich geknebelt und gefesselt geliebt fühlen? Kirstin Linnemann glaubt, dass BDSM der gesellschaftlichen Norm entgegensteht: „Wenn wir von Liebesbeziehungen sprechen, gehen wir von Romantik, Kerzenschein und Zärtlichkeit aus. So sind wir sozialisiert." Das sei aber nicht die einzige Form, in der Zuneigung möglich sei.

Sadomasochismus wird von der WHO als Störung gesehen

Für ihre Dissertation an der Universität Kassel hat sie mit 2000 Menschen aus der Szene gesprochen, die ihrer Neigung ganz unterschiedlich frönen. Darunter sind Menschen, die ihre Vorliebe im Schlafzimmer ausleben, ihren Partner zum Beispiel regelmäßig fesseln und bestrafen. Im weiteren Zusammenleben spielt BDSM aber keine Rolle. Bei anderen Paaren bestimmt eine Person fast vollständig über den Alltag des anderen. Bei ihnen ist eine große Kontrolle gewünscht, der Dominante bestimmt dabei gar über Finanzen und die Berufswahl. Kirstin Linnemann glaubt, dass BDSMler die große Kontrolle, die die meisten Außenstehenden wahrscheinlich als Einschränkung bezeichnen, als Freiheit empfinden. Was widersprüchlich klingt, erklärt sie mit dem Abgeben von Entscheidungen: „Für diese Personen ist es natürlich viel einfacher, wenn sie wissen, was der Partner erwartet, und das dann tun können."

In der ICD-10 allerdings, dem international gültigen Klassifikationsschema für Krankheiten, das von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird, wird Sadomasochismus als Störung aufgeführt. In den USA ist diese Diagnose seit 2013 aber nur noch dann erlaubt, wenn die betreffende Person darunter leidet oder anderen Menschen schadet. Auch in Deutschland fordern verschiedene Organisationen wie die deutsche Bundesvereinigung Sadomasochismus eine Revidierung der Einstufung. Bis 2018 soll ein überarbeitetes System veröffentlicht werden, die ICD-11. Übrigens: In der Vorgängerversion, die bis 1992 galt, war Homosexualität als eigene Krankheit erfasst.

Großer Unterschied zwischen Film und echtem BDSM

Wohl auch deshalb haftet dem Ganzen ein schmuddeliges Image an, mit dem kaum jemand in Verbindung gebracht werden möchte. Linnemann spricht von Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung, auch heute noch: „Zu BDSM zu stehen ist so, wie früher zu seiner Homosexualität zu stehen." Sie habe die Erfahrung gemacht, dass die Neugier einzelner Außenstehender praktisch immer hoch sei - das würde aber kaum jemand zugeben. Dass es nach den Büchern und Filmen einen großen Zulauf in die Szene gab, glaubt sie nicht. „Die Neugierde ist durch die Filme sicher hoch", sagt sie. Das reiche aber nicht, um wirklich in der Szene anzukommen: Die Diskrepanz zwischen echtem BDSM und dem Film sei zu groß.

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