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Feature

Das Leben des Romeo

Aline kümmert sich seit sechzehn Jahren um ihren schwerstbehinderten Sohn. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag. Manchmal wünscht sie sich, er würde sterben. 

Von Isabelle Zeiher

Mitten in der Nacht: ein Schluchzen aus dem Babyphone. Aline Rösch ist sofort wach. Springt auf und läuft in das Zimmer ihres Sohnes Romeo. Schaut in sein verzerrtes Gesicht – seine Augen zusammengekniffen, die Mundwinkel nach unten gezogen, der Kopf unnatür-lich verdreht. Er schreit, Tränen fließen ihm über die Wangen. Es sind diese Momente, in denen sich Aline wünscht, Romeo dürfte endlich sterben.

An einem Tag plagen den Sechzehn-jährigen epileptische Anfälle, am nächsten hat er sich seinen Arm im Bettgitter eingeklemmt, weiß nicht, wie er sich befreien kann. Manchmal hat er Hustenanfälle, bekommt schwer Luft, in seiner Lunge sammelt sich Schleim. Oft schmerzt seine Hüfte, die bereits zweimal operiert wurde. Gegen die Schmerzen bekommt er hochdosiertes Morphium. 

Und Aline? Die 34-Jährige steht vor ihrem Sohn am Bett, weiß, dass sie nichts weiter tun kann, als ihn zu trösten und ihm immer und immer wieder zu sagen, dass sie ihn lieb hat. Seit sechzehn Jahren muss sie zusehen, wie er leidet. 

Während andere mit achtzehn auf ihr erstes Auto sparen, sparte Aline für die Beerdigung ihres gerade geborenen Sohnes. Romeo, ein Frühchen, das von den Krankenschwestern nicht mit der richtigen Menge Sauerstoff versorgt wurde und daraufhin eine Hirnblutung erlitt. Romeo kann weder sehen noch sprechen, noch sich selbstständig bewegen. Schon 32-mal lag er auf dem OP-Tisch. Eine dauerhafte gesundheit-liche Verbesserung gab es nie. Vierzehn Stunden am Tag wird er beatmet. Ernährt per Infusion und angewiesen auf zwei Dutzend Medikamente, um die Schmerzen zu ertragen. 

Wie fühlt sich eine Mutter, die dabei zusehen muss, wie es ihrem Kind immer schlechter geht? Die keine Hoffnung mehr hat, dass ihr Sohn jemals gesund wird, und weiß, dass sich sein Zustand die nächsten Jahre immer weiter verschlechtert? 

Romeos Skoliose wird irgendwann auf Darm und Lunge drücken, die dünne Haut in seinem Gesicht immer häufiger aufreißen. Die Medikamente, die ihm die Schmerzen erträglich machen, zersetzen seinen Körper nach und nach – greifen Leber und Niere an. Multiorganversagen. Eine häufige Todesursache bei schwerstbehinderten Kindern. Aline weiß, dass Romeo jede Nacht aufhören könnte zu atmen und dass jeder Gutenachtkuss der letzte sein könnte.

An einem verregneten Nachmittag auf einem Spielplatz. Rollstuhl gegen Laufrad. Romeo tritt gegen seine Schwester Mina an. Auf die Plätze, fertig, los. Die Vierjährige läuft, so schnell sie kann. Aline hinterher, schiebt mit all ihrer Kraft den vierzig Kilo schweren Romeo Richtung Ziel. Dieses Mal gewinnt Mina, knapp, aber sie gewinnt. Romeo schnalzt mit der Zunge, seine Art zu lachen, und greift nach der Hand seiner Mutter. »Ma-ma, Ma-ma.« Die Momente, wenn ihr Sohn lacht und schmerzfrei zu sein scheint, geben Aline Kraft. Gleich noch mal.

Während andere Teenager die erste Freundin mit nach Hause bringen, zu laut Capital Bra hören und immerzu zeigen, wie uncool sich die eigenen Eltern benehmen, liegt Romeo im Kinderzimmer und hört: Es war ein Bi-Ba-Butzemann. Aline hat ihren Sohn gerade gebadet. Jetzt sitzt sie mit ihm auf seinem Bett, rasiert vorsichtig seinen Intimbereich und zieht ihm eine frische Windel an. Romeo brummt. Aline ist sich sicher, dass es ihm genau so wenig wie ihr gefällt.

Sie zieht Romeo seinen graublauen Schlafanzug an. Seine Muskeln sind steif, so steif, dass die Mutter die Arme ihres Kindes kaum anheben kann. Sanft massiert sie seine Muskeln, versucht, die spastische Verspannung zu lockern. Er schreit auf, verzerrt sein Gesicht. Es ist gleich vorbei, Romy. »Gleich hast du es geschafft«, sagt Aline.

Kurz vor neunzehn Uhr. Aline bereitet Romeos abendlichen Cocktail vor: etwas Wasser, Epilepsietabletten, ein Medikament gegen die Spastik. Sie zerstößt die Pillen, löst sie auf und verabreicht die Mischung ihrem Sohn über die PEG-Sonde. Dann greift sie zu einer braunen Glasflasche. Dronabinol – ein Hanfmedikament. Viermal am Tag 1,3 Milliliter bekommt Romeo gegen seine Schmerzen über den künstlichen Zugang gespritzt. Bei Bedarf sogar noch öfter. »Mir wäre es lieber, ich würde ihn, wie einen gesunden Teenager, beim Cannabisrauchen erwischen, statt ihm die Drogen selbst zu verabreichen.«

Kurz nach Romeos Geburt trennten sich Aline und ihr damaliger Freund, der leibliche Vater von Romeo – das junge Paar führte schon vor seiner Geburt eine On- off-Beziehung. Zwar besuchte ihr Ex-Freund seinen Sohn häufig, macht das bis heute, aber sechs Jahre lang kümmerte sich Aline die meiste Zeit allein um den gemeinsamen Sohn.

2010, als Romeo sechs Jahre alt war, lernte sie Semir Baydur in einem Solarium kennen. Als der damals Zwanzigjährige zum ersten Mal in Romeos Kinderzimmer stand, fühlte er sich, als wäre er im Krankenhaus: Pflegebett, Infusionsständer, ein Schrank voller Medikamente. Semir reagierte nicht schockiert, sondern beeindruckt: »Wahnsinn, was Aline allein meistert.«

Bekannte warnten Semir: »Was willst du denn mit einer Frau mit Kind? Romeo ist schwerstbehindert. Weißt du, wie eingeschränkt du dein ganzes Leben lang sein wirst?« Semir ließ sich nicht beeinflussen. Er hat einen Bruder mit Down-Syndrom, weiß, was es bedeutet, sich um ein behindertes Kind zu kümmern. Vergangenes Jahr heirateten Aline und Semir – inzwischen haben sie zwei Töchter, Maja, zwei, und Mina, vier Jahre alt.

Aline deckt Romeo zu und setzt ihm das Atemgerät auf. Nachts bläst es ihm Raumluft in die Lunge und verhindert damit Atemaussetzer. Sie legt ihm sein Froschkuscheltier ins Bett, zieht die Plüschesel-Spieluhr auf, schaltet das Babyphone an. Auf dem Weg in die Küche sammelt sie die dreckigen Hosen der Kinder ein und wischt über die Küchentheke. Semir liegt mit Mina und Maja im Bett. Wartet, bis die Mädchen eingeschlafen sind. Manchmal gelingt es ihm, dann wieder aufzustehen, und Aline und Semir haben etwas Zeit für sich. Oft schläft er aber ein. Wie an diesem Abend.

Als Erzieherin arbeitet Aline in einer Jugendwohngruppe – eine 44-Prozent- Stelle. Über die Jahre raubte ihr Romeos Pflege immer mehr Kraft. Früher nahm sie den Jungen in den Arm, trug ihn das Treppenhaus hinunter und setzte ihn ins Auto. Inzwischen wiegt er zu viel. Aline merkt, wie ihr die Pflege in Rücken und Arme geht – und auf die Psyche schlägt. Von Jahr zu Jahr fällt es ihr schwerer, im Sommer in der Wohnung zu bleiben. Das muss sie aber, weil das Sonnenlicht Romeos dünne Haut sofort verbrennt.

Ständig laufen Pfleger, Physio- und Atemtherapeuten, Logopäden oder Helfer vom Hospizdienst durch Alines Wohnung. Was sie einerseits entlastet, andererseits aber bedeutet, dass die Familie keinen Rückzugsort hat, sie niemals dreckiges Geschirr stehen lassen oder auf das Putzen verzichten kann. Aline hat genug davon, dass Gut- achter entscheiden, wie viele Windeln und Spritzen ihr Sohn verbrauchen darf. Sie füllt Anträge aus, sammelt Gutachten von Ärzten, diskutiert am Telefon mit Kassenmitarbeitern, bis sie zahlen. Nicht immer hat ihr Protest den gewünschten Erfolg. Aus jedem Kampf geht sie geschwächter heraus.

Aline Rösch ist müde geworden zu betteln. Ihren Sohn wegzugeben, ihn stationär betreuen zu lassen – für Aline wäre das keine Option. Auch wenn sie nicht weiß, wie lange sie ihn noch pflegen kann. »Bis er achtzehn ist, schaffe ich es«, sagte sie sich vor einigen Jahren. Jetzt: »Bis er 25 Jahre alt wird, danach geht es nicht mehr.« Sie schweigt, überlegt und schiebt dann nach: »Wenn er 25 ist, dann werde ich die neue Grenze vermutlich bei dreißig Jahren setzen. Irgendwie werde ich es schaffen, ihn auch weiterhin zu pflegen.«

Ins Hospiz gehen kranke Menschen, um zu sterben. Das dachte Aline bis vor fünf Jahren. An einem warmen Tag im August plantscht sie mit Semir und den drei Kindern im Pool des Kinderhospizes in Bad Grönenbach. Sie schlingt ihre Arme um Romeos Bauch, sieht sich ihren Sohn ganz genau an. »Wie groß und lang er ist, wenn er nicht im Rollstuhl sitzt.« Sie schaut Romeo in die Augen. Ein ungewohnter Anblick – ihm direkt ins Gesicht zu sehen, ohne sich hinzuknien.

Wenn die Familie gemeinsam Urlaub machen möchte, dann geht sie ins Hospiz nach Bad Grönenbach. Da ist Romeo versorgt, und Semir und Aline können entspannen. Hospizmitarbeiter unterstützen die Eltern bei Romeos Pflege. Übernehmen die Nachtdienste. Aline zeichnet tagsüber mit ihren Töchtern Märchenfiguren oder reitet mit ihren Kindern in der Pferdehalle – Romeo währenddessen fest an sich gedrückt. Alle fünf genießen die gemeinsame Zeit, es fühlt sich wie Urlaub an. Nur wissen sie, dass hier ein Kind, mit dem sie am Morgen noch gefrühstückt haben, den Abend vielleicht nicht mehr erleben wird.

Als Romeo das erste Mal im Allgäuer Hospiz Urlaub machte, bastelte er eine Fahne. Jedes kranke Kind hier besitzt eine. Irgendwann werden sie alle im Erinnerungsgarten wehen – dann, wenn die Krankheit über den Körper gesiegt hat.

Im Sommer 2015, bei einer Hüftoperation, blieb Romeos Herz stehen. »Wir versuchen alles, um ihn wiederzubeleben«, sagte der Chirurg. »Aber wir wissen nicht, ob er es schafft.« Keine lebensverlängernden Maßnahmen, keine Wiederbelebung – normalerweise sagt Aline das vor jeder Operation dazu. Dieses Mal hatte sie es vergessen: »Ich will nicht, dass Sie ihn reanimieren!«, sagte sie. »Ich habe Romeo versprochen, dass er gehen darf. Wenn er jetzt am Leben bleibt, habe ich ihm die Chance genommen.« Zu spät. Romeo überlebt, und Aline macht sich bis heute Vorwürfe.

Die Mutter weiß, dass der Tag kommen wird, an dem ihr Sohn stirbt. Romeo wird nie wieder schmatzende Luftküsse verteilen, nie wieder schadenfroh lachen, wenn Aline aufschreit, weil sie sich den Fuß gestoßen hat, nie wieder nach ihrer Hand greifen. Sie wird weinen und sich leer fühlen. Und sie wird seinen Schwestern sagen, dass sie nicht traurig sein müssen, dass es etwas Schönes ist, dass ihr Bruder nicht mehr lebt. Es gehe ihm jetzt besser, er habe keine Schmerzen mehr. »Meine größte Angst und meine größte Hoffnung ist, dass er für immer einschläft.«


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