Isabell Spilker

Hamburg / Buchholz in der Nordheide

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Feature

Hilfe ohne Wenn und Aber


Ein Gefängnisbus wird zur mobilen Praxis: In Lüneburg leistet eine Ärzte-Initiative darin täglich unbürokratische Hilfe für Flüchtlinge mit medizinischen Bedürfnissen. Sysmex Tochterfirma Hitado hat hierfür ein dringend benötigtes Blutzuckermessgerät gespendet


Mit großen Augen blickt die junge Mutter Shirin1 auf den Heilpraktiker Pablo Rondi. Ihr krankes Baby auf dem Arm, den siebenjährigen Sohn neben sich, muss sie dem Mann blind vertrauen, dass er es gut mit ihr meint. Verstehen kann sie ihn nicht. Der einzige gemeinsame Nenner: das Wort „Baby“. In der Flüchtlingsunterkunft Bilmer Berg in Lüneburg wissen die Patienten, dass Rondi unbürokratisch hilft. Ohne Schein vom Sozialamt, der die Kostenübernahme der ärztlichen Behandlung bestätigt, ohne Wartezeit in überfüllten Vorzimmern von Arztpraxen und ohne komplizierte Anreise quer durch eine Welt, die man doch gerade erst zu verstehen beginnt.

Pablo Rondi hat die Ärmel hochgekrempelt. Hier und heute, aber auch sinnbildlich. Als er und ein Team mehrerer Ärzte aus Lüneburg im September 2015 die Flüchtlingswelle auf Deutschland zurollen sahen, packten sie an und  gründeten die „Offene Sprechstunde“. „Es ist ganz einfach unsere gesellschaftliche Verantwortung“, sagt er, ohne dass es pathetisch klingt. Rondi ist Heilpraktiker und betreibt eine eigene Praxis in der Heidestadt. Die Dienstage schaufelt er sich stets frei für seine Aktivitäten in der Flüchtlingsinitiative. Er koordiniert die Einsätze, stockt das Medikamentenlager im Büro des Heinrich-Boll-Hauses auf und ist schließlich auch selbst nachmittags auf der Straße oder in den Unterkünften, um die Patienten zu behandeln.


Der Arzt als Türöffner 

Die Unterkunft Bilmer Berg liegt am Ende einer Sackgasse im Lüneburger Gewerbegebiet. Graue Häuser, umringt von Waldgebiet. Fast schon Dänemark-Style. Schaut man genau hin, sind die Wände nicht aus Holz, sondern aus dickem Plastik. Eine mobile Idylle mit Fernstraßen-Sound im Hintergrund. Als der Bus auf den Hof der Unterkunft fährt, gehen die Türen der ersten Häuser auf. Einmal die Woche ist Rondi hier vor Ort, er kennt fast jeden Bewohner. Mal fragt er nach den Knien, mal nach der Arbeit oder nach den Kindern bei denen, die ganz gut deutsch sprechen und offenbar schon einige Zeit hier leben. 

Manchmal aber braucht er einen Dolmetscher, für die Kurdin Shirin muss letztlich der siebenjährige Sohn übersetzen. Halsschmerzen hat sie, das Baby Schnupfen, es trinkt nicht, schon seit Tagen. „Sag deiner Mutter, das Baby muss zum Kinderarzt“, erklärt er dem Jungen, der seit einigen Tagen die Schule besucht. „Ich kann hier jetzt für das Kleine nichts tun“, stellt der Heilpraktiker fest, „das wäre fahrlässig.“

Auch einen 18-Jährigen, der über Erschöpfungszustände nach nur geringer Anstrengung, über Herzrasen, Gewichtszunahme und Haarverlust klagt, schickt er zum niedergelassenen Arzt. „Ich habe einen Verdacht: Hyperthyreose.“ Der junge Mann schaut hoffnungsvoll: Eine einzige Diagnose konnte all seine Probleme lösen? „Wenn ich recht habe, kann dir schnell geholfen werden. Aber das muss sich ein Fachmann anschauen und dein Blut untersuchen.“


Geld für Labordiagnostik fehlt 

Rondi ist der Türöffner. Ihm vertrauen die Menschen hier, er hilft unkompliziert und ist nahbar. Aber bei nötigen Laboruntersuchungen sind ihm schnell die Hände gebunden, denn die Initiative finanziert sich ausschließlich über Spenden – und da sind diese Kosten nicht drin.

Nachdem sich die Mediziner 2015 der Willkommensinitiative angeschlossen hatten, begann die Fleißarbeit: Wer gibt Geld für den guten Zweck, wer spendet Ausstattung und Geräte? Ein alter Gefängnisbus wurde angeschafft und ausgebaut, Pharmaunternehmen lieferten Medikamente, Untersuchungsliegen wurden eingesammelt. „Was uns fehlte, versuchte ich über Firmen direkt zu erbitten“, berichtet Rondi. Hitado als Anbieter patientennaher Sofortdiagnostik stiftete das Blutzuckermessegerät HemoCue® HbA1c 501 und versorgt die Initiative mit verschiedensten Teststreifen, etwa zur Urinanalytik oder Influenza-Diagnose. Im Bus steht das Testgerat bereit, um binnen kurzer Zeit den Langzeitzucker im Blut zu bestimmen. Steht die Diagnose fest, kann weiter überlegt werden. „Für jeden Weg, den ich meinen Patienten ersparen kann, bin ich dankbar. Denn  in eine Arztpraxis zu kommen, ist für sie kompliziert und mit Hurden verbunden.“

Und: Nicht für jeden Flüchtling ist die Therapie gesichert. 480.000 Menschen leben in Deutschland derzeit ohne geklärten Aufenthaltsstatus. Sogenannte Illegale – wobei Rondi schon bei dem Wort zusammenzuckt. „Wie kann ein Mensch illegal sein, noch dazu einer, der seine Heimat mit der Überzeugung verlässt, dass sein Leben dort in Gefahr ist?“ Aus seiner Meinung macht er keinen Hehl: Erfährt er etwa, dass einer der Kollegen nach der Untersuchung eines Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus Informationen an die Ausländerbehörde weitergibt, droht er mit Klage. Er appelliert an die Schweigepflicht der Ärzte.


Katastrophale Einzelschicksale 

Die sieben Unterkünfte Lüneburgs sind mit festem Arztzimmer ausgestattet. Der Bus fängt die Patienten auf der Straße auf und dient in den Unterkünften als Unterstützung bei großem Andrang. Die Ärzte – zwischenzeitlich waren es 39, heute sind es noch 16 – teilen sich die Arbeit auf. Unter ihnen sind Heilpraktiker, Gynäkologen und Allgemeinmediziner, sie arbeiten eng zusammen wie  selten sonst im normalen Alltag.

„Wir lernen sogar noch etwas voneinander in der Diagnostik“, sagt Rondi laut lachend. Es ist ein fröhliches Lachen, das in angenehmem Widerspruch steht zu dem Leid, das seine Patienten in ihrem Leben bislang erfahren haben. „Ich habe schon alles gesehen: Schussverletzungen, Granatenverletzungen. Das Leid war groß., vor der Flucht, auf der Flucht. Wir begegnen katastrophalen Einzelschicksalen – und nicht immer können wir mit unseren Mitteln helfen, da müssen dann Psychologen hinzugezogen werden.“

Mit der Stadt Lüneburg arbeitet Rondi eng zusammen. Der Bus der offenen Sprechstunde darf an bestimmten Punkten der Stadt halten und den untersuchen, der gerade in Not ist. „Die Gefahr ist groß, dass die Tuberkulose und das Denguefieber bei uns schnell mit am Tisch sitzen, wenn wir in Deutschland keine niedrigschwellige medizinische Versorgung gewährleisten“, mahnt Rondi und wendet sich erneut Shirin zu. Das Baby zum Kinderarzt, aber wie oft soll die Mutter selbst ihr Medikament einnehmen? Zuletzt hilft das Smartphone mit der Kurdisch-Übersetzungs-App, aber der Heilpraktiker ist noch nicht ganz überzeugt. Die Mutter geht. Später wird er Rücksprache mit der Sozialarbeiterin halten und für die Mutter weitere Hilfe organisieren. Fremdes Land, fremde Sprache – und einige gute Herzen.

Wenn auch Sie helfen wollen, kontaktieren Sie gern das Ärzteteam über www.offene-sprechstunde.de.

 

*Name geändert


Foto: Olaf Tamm


erschienen in: Xtra 1/2018