Der Mythos, dass wir nur zehn Prozent unseres Hirnes nutzen, hält sich hartnäckig. Schlummert in unseren grauen Zellen tatsächlich verstecktes Potential? Und wenn ja - wie erschließen wir es?
Scarlett Johansson als unfreiwilliger Drogenkurier, eine Panne, Chemikalien im Blut, Superkräfte - Action und Science Fiction: Das erwartet die Kinobesucher ab Donnerstag (14. August) im Film „Lucy".
Taiwanesische Schmuggler zwingen die amerikanische Studentin Lucy, gespielt von Johansson, Drogen in ihrem Körper zu transportieren. Das geht natürlich schief: Lucy bekommt einen Tritt in den Unterleib, das Drogenpaket bricht auf, die Substanzen geraten in ihr Blut.
Und dann legt Lucy richtig los: In kürzester Zeit lernt sie Chinesisch, bewegt Dinge Kraft ihrer Gedanken, schaltet ihre Schmerzempfindlichkeit aus, spult die Zeit vor und zurück, lässt Menschen ohnmächtig zusammenbrechen. Sie spürt ihre Umgebung: den Raum und die Dinge darin, Menschen, Bewegungen. Lucy flieht. Und nun will sie mehr.
Die Grundannahme stimmt nicht
Spannend ist der Film, keine Frage. Aber wissenschaftlich betrachtet stimmt schon die Grundannahme nicht. „Die meisten Menschen nutzen lediglich zehn Prozent ihrer Gehirnkapazität", doziert der Film-Neurologe Samuel Norman (Morgan Freeman). Lucy hat ihre Superkräfte angeblich, weil sie die 100 Prozent ihrer grauen Zellen einsetzt.
Diese These mag vielzitiert sein, dran ist jedoch nichts. Barry Gordon, Neurologe an der Johns Hopkins School of Medicine im amerikanischen Baltimore, erklärt im „Scientific American‟: „Der zehn-Prozent-Mythos ist so falsch, dass es schon zum Lachen ist."
Bei Konzentration spezialisiert sich das Gehirn auf eine Aufgabe
Im Gehirn feuern Milliarden von Neuronen - und zwar überall. Jeder Teil des Gehirns übernimmt dabei bestimmte Funktionen. Konzentriert sich der Mensch, sind einige Gehirnareale besonders aktiv, andere laufen auf Sparflamme. Sie werden unterdrückt, damit sich unsere Aufmerksamkeit ganz auf das richtet, was gerade wichtig ist. Bewegen wir uns beispielsweise, sind unsere motorischen Zentren gefragt. Schauen wir uns konzentriert etwas an, läuft das visuelle System zu Höchstleistungen auf - im Gegenzug sind wir etwa für Geräusche weniger empfänglich.
Würden wir bestimmte Hirnareale tatsächlich nicht nutzen, würden sie absterben oder sich neuen Aufgaben zuwenden. Blinde etwa hören oft besser oder haben einen feineren Tastsinn, weil die Nervenzellen, die bei Sehenden für die Verarbeitung visueller Eindrücke zuständig sind, bei ihnen andere Funktionen übernehmen.
Soweit stimmt der Film also: Lucy nutzt 100 Prozent ihres Gehirns. Allein: Das tun alle anderen auch.
Mit Magnetimpulsen zu Höchstleistungen?
Dennoch gibt es Menschen, deren Hirne scheinbar Übermenschliches leisten: So genannte Savants. Sie haben außergewöhnliche Fähigkeiten, berechnen komplizierteste Aufgaben in Sekunden, zählen Erbsen mit einem Blick oder spielen komplexe Musikstücke nach einmaligem Hören. Doch vielen fällt der Umgang mit anderen Menschen schwer. In einem Bereich vollbringen ihre Gehirne extreme Leistungen, in anderen Lebensbereichen haben sie zu kämpfen.
Bei den Savants, so vermuten Wissenschaftler, sind bestimmte Areale im linken Schläfenlappen geschädigt. Die australische Psychologin Robyn Young wagte 2001 ein Experiment mit Freiwilligen: Mit gezielten magnetischen Impulsen schaltete sie zeitweilig Teile des Sprachzentrums ab, außerdem Areale, die für Sozialverhalten zuständig sind. So imitierte sie Symptome des Autismus.
Einige der Teilnehmer waren plötzlich zu extremen Leistungen in der Lage. Vor allem im künstlerischen Bereich zeigte sich das: die Probanden konnten besser zeichnen. Young vermutet, dass Sprache und Gedanken uns davon abhalten, manche kreativen Fähigkeiten auszuschöpfen. Allan Snyder vom Centre for the Mind an der University of Sydney hat ähnliche Versuche durchgeführt - auch er gibt an, dass einige Probanden vorübergehend außergewöhnliche Fähigkeiten entwickelten.
Gehirndoping mit Pillen
Noch ist umstritten, ob und in welchem Maße das vorübergehende Lahmlegen von Hirnarealen mit Hilfe von Magnetfeldern tatsächlich verborgene Fähigkeiten freisetzen kann. Gehirndoping mit Hilfe von Pillen hingegen wird bereits betrieben: Viele Gestresste etwa greifen zum ADHS-Medikament Ritalin. Was zappelige Kinder beruhigen soll, putscht müde Eltern wieder auf. Viele berichten von gesteigerter Konzentration und dem Gefühl, hellwach zu sein.
Als das renommierte Wissenschaftsmagazin Nature vor einigen Jahren eine Umfrage zum Thema Gehirn-Doping durchführte, gab rund jeder Fünfte an, es schon einmal probiert zu haben. Vor allem Menschen zwischen 18 und 25 sowie zwischen 55 bis 65 Jahren griffen zur Pille. 62 Prozent von ihnen probierten Methylphenidat, den Ritalin-Wirkstoff.
Supergedächtnis auf Rezept?
Methylphenidat senkt die Konzentration des Neurotransmitters Dopamin - und wirkt damit wie eine Impulsbremse. Normale Bedürfnisse lassen sich leichter ignorieren. Wer Ritalin schluckt, wird nicht schlauer. Er kann sich einfach besser konzentrieren und blendet unwichtige Wahrnehmungen aus. Das hat auch eine Kehrseite: Die Konsumenten empfinden Gefühle nur noch gedämpft, ihre Persönlichkeit verändert sich, sie verlieren ihre Kreativität.
Der Neurologe Ron Davis vom Scripps Research Institute will über die Manipulation von Dopaminrezeptoren einen anderen Effekt erzielen: Er hat einen Ansatzpunkt gefunden, um das Vergessen abzuschalten. Erste Versuche mit Fruchtfliegen zeigten, dass das Gehirn aktiv vergisst - es löscht unwichtige Erinnerungen, bevor sie sich festigen. Als Verantwortliche identifizierte Davis' Team eine Klasse von Dopaminrezeptoren an bestimmten Nervenzellen im Fliegenhirn. Schalteten die Forscher die Rezeptoren zum Vergessen ab, blieben alle Information den Insekten im Gedächtnis.
Davis vermutet, dass im menschlichen Hirn ein ähnlicher Mechanismus am Werke ist. „Savants haben auf Spezialgebieten ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen‟, sagt er. „Aber vielleicht ist es nicht ihr Gedächtnis, das ihnen diese Fähigkeiten verleiht. Vielleicht haben sie einen fehlerhaften Vergessensmechanismus.‟ Davis wittert hier einen Ansatzpunkt, um das Gedächtnis zu stärken: „Wie wäre es mit Medikamenten zur geistigen Leistungssteigerung, die das Vergessen hemmen?‟