Autorin
Durch die Prachtstraße Elizebetes iela schiebt sich der Feierabendverkehr, Stoßstange steht an Stoßstange. „Lidojošā varde“ - Fliegender Frosch heißt das Café, vor dem ich Aija Kocina treffe. Sie wartet schon. Dick eingepackt, unter der rosa Mütze lugen halblange dunkle Haare hervor. Aija ist Lettin und Fremdenführerin aus Berufung. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihre Heimatstadt für den schönsten Ort der Welt hält.
Aija Kocina
Wenn man nach Riga kommt und nur Altstadt ansieht und dann wieder nach Hause geht, dann sagt man: Sie haben fast die Hälfte nicht gesehen. Weil eigentlich diese Jugendstilecke ist ein Muss!
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Die Elizabetes iela ist das Tor zum Rigaer Jugendstilviertel. Rund 800 Jugendstilhäuser schossen Anfang des 20. Jahrhunderts buchstäblich aus dem Acker, so viele, wie sonst nirgends auf der Welt. Mit Fug und Recht wird Riga deshalb auch als Hauptstadt des Jugendstils bezeichnet.
Aija Kocina
Riga ist eine sehr reiche russische Provinz gewesen und dazu noch sehr viel freie Fläche war hier. Weil, wo wir jetzt gerade stehen. Und nach dem Napoleonskrieg hat man diese Fläche geöffnet, jetzt ist auch erlaubt normale Mietshäuser zu bauen. Und dann hat dieser Boom angefangen. Was baut man auf? Natürlich, was gerade modern ist.
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Wir biegen in eine Seitenstraße und erreichen die Albertstraße. Die „Visitenkarte des Rigaer Jugendstils“, sagt Aija feierlich. Wir stehen vor der Alberta iela 1, einem Haus mit Vorgärtchen und bepflanzten Loggien. Heute ist hier „Tag der offenen Tür“.
Auf die Wände im Treppenhaus sind pausbäckige Frauenköpfe gemalt, umrahmt von grünen Ranken und Blumen. In der Wohnung empfängt uns Agnese Rugevica. Sie trägt die blonden Haare zu einem Zopf geflochten, die Lippen sind rot geschminkt. Sie arbeitet für eine Maklerfirma.
Agnese
Dieses Haus wurde 1901 erbaut. Unsere Firma hat dieses Haus gekauft und restauriert. Alle Wohnungen haben sechs bis sieben Räume. Die kleinste Wohnung ist 140 m², die größte 200 m². Ein Quadratmeter kostet zwischen 4500 und 6500 Euro.
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Ständig kommen und gehen Menschen, die einfach mal sehen wollen, wie ein Haus auf der prachtvollen Alberta iela von innen aussieht. Wir schlendern durch die leeren, weiß gestrichenen Räume. Hohe Decken, edles Parkett. Der Jugendstil zeigt sich im aufwendigen Stuck an den Decken und in den original erhaltenen Kaminöfen mit grün und weiß lasierten Kacheln. Früher sei hier zeitweise die deutsche Mädchenschule untergebracht gewesen, erzählt Agnese.
Agnese
In der Sowjetzeit waren das kommunale Wohnungen, etwas wie eine Jugendherberge mit Gemeinschaftsbad und -küche. (lacht) Man hatte auch nicht viel Respekt vor der Geschichte dieses Hauses. Wir haben das Haus in sehr schlechtem Zustand übernommen.
Zurück auf der Alberta iela. Im weiteren Straßenverlauf erleben wir ein reinstes Feuerwerk an Formen und Ornamenten. Nierenfenster, Fabelfiguren, Pflanzenmotive, geschwungene Balkonbrüstungen. Hier haben die Architekten anlässlich des 700. Jubiläums der Stadt im Jahre 1901 ihr Können gezeigt. Zur Vollendung gebracht hat diesen üppigen Stil der Architekt Michail Ossipowitsch Eisenstein, Vater von Sergej Eisenstein, der sich als Regisseur vor allem mit dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ einen Namen machte.
Aija Kocina
Wir nennen ihn verrückter Konditor oder Tortenbäcker, weil wenn man so optisch an den Häuserfassaden ansieht, dann er hat die nie leer gelassen, das heißt ob er Angst hätte vor die Leere und er hat in diesem sehr prachtvollen Jugendstil weniger als 19 Häuser entworfen, aber es hat gereicht. Er ist viel berühmter als diejenigen, die zwei-dreihundert Häuser entworfen haben.
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Aija deutet auf das Haus Nummer 2a, auch ein Werk von Michael Eisenstein. Aus stilisierten Fackeln flammen rote Linien nach oben und enden jede in einem Frauenkopf. Vom Portal starren drachenartige Männerfratzen. Vor dem Eingang wachen zwei Sphinxen.
Aija Kocina
Und die Sphinxen haben Augen auf. Und da erzählt man auch darüber Legenden, dass sehr oft haben die Architekten über die zukünftigen Besitzer lustig gemacht. Das heißt, ob er sich in Symbolik auskennt. Wenn eine Sphinx die Augen auf hat, dann bleibt der Mensch zu einem Stein. Das hat in diesem Fall die zukünftigen Besitzer nicht gewusst.
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Michail Eisenstein war ein Meister der Symbolik. Bienen stehen für den Fleiß, Eulen für die Klugheit, der Pfau für das Himmelreich, die Schlange für List und Betrug.
Aija Kocina
Giftige Schlangen, das sind vielleicht auch manchmal die Frau uen, die über die Straßen gehen. Nirgendwo auf die ganze Welt sieht man so viele unbekleidete Frauen wie im Rigaischen Jugendstil. Deswegen lachen wir Rigaischen Frauen sehr oft, dass Jugendstil ist ein Muss für die Männer.
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Die meisten Häuser im Unesco-geschützten Jugendstilviertel sind mustergültig restauriert und erstrahlen im alten Glanz. A ndere warten noch auf ihre Renaissance, grüne Netze schützen vor herunterfallenden Putzstücken.
Aija Kocina
So ungefähr sah das nach der Wende auch aus. Also der Zustand war schlimm. Das ist eine wahnsinnige Arbeit, die hier wirklich geleistet ist, dass die Häuser so repräsentativ aussehen, wie die heute aussehen.
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Anfang des 20. Jahrhunderts war die Albertstraße das „stille Zentrum“ von Riga. Viele wohlhabende Bürger ließen sich hier nieder. Durchaus nicht nur Deutsche, Russen oder Juden, die bis dahin die Oberschicht in Riga gebildet hatten, sondern auch die erste hochgebildete und gut situierte Schicht von Letten. Mit dem erstarkenden lettischen Nationalstolz prägten die lettischen Architekten denn auch ihren eigenen Stil, den Nationalromantismus. Er ist weniger verspielt als der Jugendstil. Klare, geometrische Formen, raue Fassaden in erdigen Tönen. Sie sollen die Naturverbundenheit der Letten und ihre zurückhaltende Mentalität symbolisieren.
Aija Kocina
Und wenn wir jetzt die Fassade ansehen, dann sehen wir auch wieder die vielen Fensterformen, die Erker, die rauskommen, dann so kleine halbrunde Dächer. Da kommen auch die Sonnenmotive oben, da sind auch Margaritenblumen zu sehen. Also praktisch er hat aus unserer Folklore die Inspiration bekommen.
Michail Eisenstein war der bekannteste und der Lette Konstantīns Pēkšēns mit etwa 250 Häusern der produktivste Architekt des Rigaer Jugendstils. In seinem Wohnhaus, am Ende der Albertstraße hat die Stadt Riga ein Jugendstilmuseum eröffnet. Die ehemalige Wohnung des Architekten wurde restauriert und neu eingerichtet, komplett im Jugendstil. Sogar die Museumsmitarbeiterinnen tragen zeitgenössische Kleider und ausladende Hüte mit Blumenschmuck.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es auch sehr viele Möbel, da haben die Angst vor der Leere wieder gehabt. Das ging dann später etwas zurück, das war nicht mehr so überladen.
Im Jugendstilmuseum wird klar: Der „Jugenstila“, wie er auf Lettisch heißt, erfasste alle Lebensbereiche. Die Wände sind mit Bordüren aus Margariten und Kastanien geschmückt, die Polster und Tischdecken mit Blumen, sogar Besteck und Nachttopf sind verziert mit Ranken oder wenigstens geschwungenen Linien.
Aija Kocina
Das war wie die Reise in der Wohnung und dieser Überraschungsmoment soll immer da sein.
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