Wohl jedem ist Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen ein Begriff. Aber Sachsenburg? Der Ort Sachsenburg liegt bei Chemnitz und auch hier gab es während des Nationalsozialismus ein Konzentrationslager. Es zählt zu den frühen Konzentrationslagern, die es überall in Deutschland in alten Fabriken oder Schlössern gab, bis die großen Barackenlager wie Buchenwald errichtet waren. Doch im Gegensatz zu den großen droht den frühen Konzentrationslagern das Vergessen. In Sachsenburg kämpft eine Lehrerin dagegen an, indem sie Jugendlichen das Wissen weitergibt. Iris Milde hat sie getroffen.
Atmo
Klasse, Schülerin: „1935. Eskalation in der Behandlung der Häftlinge“
Autorin
Im Stuhlkreis sitzen vier Jugendliche und schauen angestrengt auf den Zeitstrahl vor ihnen auf dem Boden. Sie versuchen Kärtchen mit den Eckdaten aus der Geschichte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenburg in die richtige Reihenfolge zu bringen.
Schülerin
Ich habe den 12.7.1937. Und da ist die Auflösung des KZ Sachsenburg.
Schüller (zu Schülern)
Es wird ja dann das Lager aufgelöst und '37 werden dann die anderen Lager wie Buchenwald und Sachsenhausen eingerichtet.
Autorin
Anna Schüller, Lehrerin für Kunst und Geschichte am Karl-Schmitt-Rottluff-Gymnasium in Chemnitz, erklärt die Zusammenhänge. Denn für die Schüler der 9. Klasse ist die NS-Geschichte noch weitestgehend Neuland.
Schüller
Das ist ja keine richtige Schulstunde, sondern eher so eine Art Projektstunde, wenn man so will. Und wir treffen uns halt und kommen über Sachsenburg und über die Geschichte des Nationalsozialismus einfach ins Gespräch. Und dabei vermittele ich Wissen mit, aber es geht eher darum, auch darüber zu sprechen.
Autorin
In den Herbstferien hat Anna Schüller mit den Gymnasiasten das ehemalige KZ besucht, das etwa eine halbe Fahrtstunde von Chemnitz entfernt liegt. Dass ein KZ direkt vor ihrer Haustür existierte, war für viele neu.
Tilman
Also man hört ja jetzt meistens nur so von Auschwitz und denke ich mal, dass das jeder weiß, aber wenn man jetzt mal auch so hört, dass es in Sachsen zum Beispiel so viele KZs gab und auch in unserer Nähe, das ist schon ziemlich krass eigentlich.
Atmo
Schritte
Schüller
Wir sind derzeit jetzt auf dem Appellplatz, dem ehemaligen Appellplatz des früheren Konzentrationslagers Sachsenburg, was sich eben von 1933 bis 1937 hier auf dem Gelände befunden hat.
Autorin
Anna Schüller steht auf dem Hof der ehemaligen Spinnerei von Sachsenburg, malerisch gelegen in einer Flussaue.
Schüller
Also es wurde '33 eingerichtet, da gab es ganz viele Lager in Sachsen, also Hunderte von Lagern, Turnhallen, überall wurden schnelle Haftstätten eingerichtet, und dann im Laufe des Jahres '33 und Anfang '34 wurden diese kleinen Lager alle geschlossen und Sachsenburg war dann das größte Lager in ganz Sachsen und auch das einzigste dann. Namen bekannt sind jetzt 7000. Wir schätzen aber, dass weit über 10.000 Häftlinge hier eingesperrt worden waren.
Atmo
Schlüssel, in Gebäude gehen
Autorin
In den frühen KZs waren das vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Mit Anna Schüller betrete ich das fünfstöckige Spinnereigebäude. Jede Etage eine riesige Halle.
Schüller
Es gibt noch Bilder, wo wir sehen, dass dreistöckige Holzbetten da stehen. Also ich habe jetzt eine Zahl gefunden, dass so um die 600 Männer gleichzeitig in einer Etage waren.
Autorin
Sachsenburg war kein Todeslager. Aber, so hat Schüller herausgefunden, in Sachsenburg wurden die Wachmannschaften auf ihren späteren Dienst in Buchenwald oder Dachau vorbereitet. Hier wurde das System der Demütigung und Entrechtung eingeführt und perfektioniert. Gisela Heidens Großvater hat den Drill am eigenen Leib erlebt.
Heiden
Er war ja mit 26 im sogenannten Sportkommando. Männer bis zum 26. Lebensjahr gingen nicht in den Steinbruch, sondern das war Sportkommando, Sport bis zum Umfallen. Da gibt es eine Bezeichnung „Häschen hüpf“. Das heißt die mussten die Hände an die Fußfesseln nehmen und dann hüpfen. Und das mussten die stundenlang tun. Ohne viel zu essen. Und dann zwischendurch Verhöre.
Autorin
Gisela Heiden ist Mitglied der Lagerarbeitsgemeinschaft, einem Verein von Angehörigen ehemaliger Häftlinge. Der Verein kämpft seit den 90er Jahren für eine Gedenkstätte in der alten Spinnerei. Das will auch Anna Schüller mit der Initiative Klick. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Jugendarbeit.
Schüller
Und deswegen haben wir dann mit Jugendlichen Workshopwochen gemacht und haben uns in Workshops einfach mit dieser Geschichte beschäftigt. Also einmal der klassische Archivworkshop, aber auch ein Bildhauerworkshop, Filmworkshop, Fotoworkshop, Radiofeatureworkshop. Und so in den letzten zwei, drei Jahren eigentlich haben wir uns versucht, auch immer mehr politisch einzubringen, weil wir gemerkt haben, wir brauchen diese Gedenkstätte, einfach um einen Rahmen zu haben, wo wir mit Jugendlichen arbeiten können.
Autorin
Anna Schüller und ihre Mitstreiter organisierten Dialogabende und suchten das Gespräch mit Kommunalpolitikern. Außerdem hat die 26-jährige ein Konzept für eine Gedenkstätte entworfen, das derzeit von der Stiftung sächsischer Gedenkstätten geprüft wird. In Sachsenburg hätte man die Chance, Gedenkstättenpädagogik ganz neu zu denken, findet der Professor für politische und kulturelle Bildung Uwe Hirschfeld von der Evangelischen Hochschule Dresden.
Hirschfeld
Also man müsste diese Gedenkstätte anlegen wie einen Experimentierraum. Das man sagt, ihr seid herzlich eingeladen mit euren Fragen, mit euren Irritationen, Problemen hierher zu kommen und wir gucken mal, was hat das dann mit Geschichte zu tun. Und dafür brauche ich Platz. Und den hätte man hier.
Schüller
Vor meinem inneren Auge wären das sozusagen viele offene Räume, wo man einfach die Möglichkeit hat zu recherchieren, in diese Geschichte einzutauchen und Dinge auch zu entdecken. Und dann kommt es auch, dass man sich fragt, was hat das denn eigentlich mit mir heute zu tun? Und das ist ja eigentlich der Kern, wo es hin soll.
Autorin
Doch die Stadt Frankenberg, zu der Sachsenburg gehört, favorisiert eine kleine Gedenkstätte im ehemaligen Zellengebäude. Die Schlafsäle der Häftlinge seien derzeit nicht Teil der Planungen, so Bürgermeister Thomas Firmenich:
Firmenich
Wir haben uns darauf verständigt: Qualität lieber als das ewig riesig zu machen, wo man dann befürchten muss, dass wir vielleicht überfordert sind oder wir auch finanziell nicht zurecht kommen.
Autorin
Bis überhaupt eine Gedenkstätte eröffnet, werden noch Jahre vergehen. Doch Anna Schüller möchte keine Zeit verstreichen lassen. Deshalb sucht die junge Lehrerin andere Wege, ihren Schülern die Geschichte von Sachsenburg näher zu bringen.
Schülerin
Ich habe mal eine Frage: Wenn die kein Geld bekommen oder haben die da Geld verdient oder wie konnten die sich sonst was kaufen?
Schüller
Am Anfang haben die so Geldsendungen bekommen von ihren Angehörigen. Dann konnten die sich was in dieser Kantine kaufen. Ansonsten nichts.
Schülerin
Und später nicht mehr?
Schüller
Ne.
Schülerin
Und dann haben die doch dort auch nichts verdient, oder?
Schüller
Eher im Gegenteil, die mussten noch bezahlen für die Unterbringung in der Schutzhaft.
Autorin
Etwa einmal im Monat trifft sich Anna Schüller mit ein paar interessierten Schülern zu einer Guide-Ausbildung. Ziel ist, dass die Schüler später Gleichaltrige durch das ehemalige Konzentrationslager führen.
Schüller
Ich weiß nicht, ob dann alle über das Gelände führen werden, aber sie bekommen mit, dass es Möglichkeiten gibt, sich eben zu engagieren und einzusetzen und das ist ja das, was ich auch vorleben möchte.
Aline
Ich denke, das wird schon interessant und ich denke, dass vielleicht auch mehr so in unserem Alter kommen werden, die sich das anschauen, weil also ich würde jetzt eher zu einer Führung gehen, wo jemand in meinem Alter die Führung macht.
Autorin
Heute fahren sächsische Schulklassen nach Buchenwald, in einigen Jahren vielleicht auch nach Sachsenburg.
Original