In Sachen Smartphone macht Petra Hass niemand etwas vor. Die Bremerin kennt jeden Millimeter des Bildschirms, jede Funktion, jede App. Die erleichtern ihr den Alltag – denn Petra Hass ist blind.
In rasendem Tempo wischt Petra Hass über das Display. „Wischiwaschi" nennt sie das - von rechts nach links, von oben nach unten, dann Doppeltipp und wieder von vorne. In Sachen Smartphone macht der 48-jährigen niemand etwas vor. Sie kennt jeden Millimeter des Bildschirms, jede Funktion, jede App. Was dabei zunächst nicht auffällt: Petra Hass ist fast blind.
Tastentelefone, ja. Aber Touchscreen-gesteuerte Geräte blind bedienen? Das erscheint im ersten Moment gar nicht so naheliegend. Für viele Sehende ist dieser Gedanke deshalb nur schwer vorstellbar. „Dabei ist die blinde Bedienung gar nicht neu", sagt Hass. Sie nutzt das Smartphone seit vielen Jahren.
Möglich ist das seit 2009. Damals brachte die Firma Apple das iPhone 3GS auf den Markt. Erstmals in der Geschichte des Smartphones wurde mit der Software VoiceOver eine Bildschirmlesefunktion kostenfrei in das Betriebssystem iOS integriert. Mittlerweile sind alle Apple-Geräte mit der Technologie ausgestattet. Sie sind barrierefrei und bei Blinden deshalb besonders beliebt. Android-Geräte könnten da oft nicht mithalten, sagt Hass. Auch sie hat deshalb ein iPhone.
Was vorher Aufgabe von Freunden und Familie war, übernehmen jetzt Anna, Markus und Yannick. Das sind die Stimmen, die Petra Hass etwas roboterhaft erklären können, über welche App-Icons, Schaltflächen und Textfelder der Finger gerade streicht. Hass hat sich für Anna entschieden, genauer für „Anna Hochwertig". Die anderen klingen oft, als hätten sie ein Kopftuch im Mund, findet sie.
Schnellzug unter den Smartphone-NutzernNeben Anna gibt es noch Siri, eine Spracheingabesoftware. Mit ihr kann Hass Fragen stellen, Befehle geben oder Textnachrichten diktieren: „Hallo Michael, Komma, neuer Absatz, das hier ist eine Probenachricht, Komma, um vorzuführen, Komma, wie ich dir mit Siri eine Nachricht bei Whatsapp schicken kann, lippenleckender Emoji, Punkt, neuer Absatz. Bis später, Komma, es grüßt dich, neuer Absatz, deine Petra", spricht sie in deutlichstem Stakkato in das Gerät und schickt den Text per Doppeltipp ab.
Petra Hass ist der Schnellzug unter den Smartphone-Nutzern mit Sehverlust. Als sie sich die Nachricht noch einmal von Anna vorlesen lässt, überschlägt sich deren Stimme fast. Hass hat Tempo 90 eingestellt - maximale Sprechgeschwindigkeit. Sie versteht fast jedes Wort, denn ihre Ohren sind geschult. Beinahe blind ist sie seit der Geburt.
Den Umgang mit digitalen Hilfsmitteln wollen auch andere Betroffene lernen. Wenn Petra Hass die neusten technischen Kniffe erklärt, ist der Raum deshalb bis auf den letzten Platz gefüllt. Mindestens einmal in der Woche kommt die quirlige Frau, die viel und gerne spricht, aus ihrer Heimatstadt Osterholz-Scharmbeck in den Bremer Blinden- und Sehbehindertenverein. Dort ist sie Allrounderin: Mal referiert sie über Alexa, eine sprachgesteuerte, internetbasierte Assistenz der Firma Amazon, mal über Webbox 2, ein Internetradio speziell für Blinde. Heute auf dem Programm: BlindSquare. Die Navigations-App wurde speziell für Blinde entwickelt. Sie nennt umliegende Straßenkreuzungen, Geschäfte oder Bushaltestellen und gibt die Richtung an, in der sie zu finden sind. Aufmerksam müsse man im Straßenverkehr aber dennoch sein, warnt Hass - Baustellen oder einen Laternenpfahl erkennt die App nicht.
155 000 blinde Menschen in DeutschlandIn Hass' Kursen ist sie selbst meist die Jüngste. Das Alter der Teilnehmer bewegt sich zwischen 50 und 76 Jahren. Einige von ihnen konnten noch vor wenigen Jahren sehen. Das Augenlicht haben sie durch eine Krankheit verloren. In vielen Fällen kam die schleichend und trägt den Namen AMD. Das ist die Abkürzung für altersbedingte Makuladegeneration: ein Netzhautschaden, bei dem die Zelle im Zentrum der Netzhaut allmählich abstirbt.
Nach Schätzungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes leben in Deutschland etwa 155 000 blinde und 500 000 sehbehinderte Menschen. Ob diese Zahlen so stimmen, ist unklar. „Betroffene werden in Deutschland nicht gezählt", sagt Oliver Müller, Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Bremen. Auch er ist an einer Form der Makuladegeneration erkrankt. Einer Studie der Bonner Universitätsklinik zufolge tritt die Augenkrankheit in Deutschland immer häufiger auf. Das liegt daran, dass die Menschen immer älter werden. Forscher nehmen deshalb an, dass die Zahl der Neuerblindungen in Deutschland in den kommenden Jahren deutlich zunehmen wird. Mit ihr: „Der Bedarf, sich im Alltag digital zu behelfen", so Müller.
Doch was bei Petra Hass kinderleicht wirkt, stellt andere Betroffene vor Herausforderungen. Besonders für ältere Menschen erfordert der Umgang mit digitalen Geräten viel Übung. Sie sind mit den neuen Technologien nicht aufgewachsen und benötigen oftmals spezielle Anwendungen. Diese sind nicht immer selbsterklärend.
Smartphone als wichtiges HilfsmittelDie Erfahrung hat auch Oliver Müller gemacht. Er hat Maschinenbau studiert und lange als Ingenieur gearbeitet. Seine Arbeit in einem Bremer Konstruktionsbüro musste er Anfang des Jahres aufgeben. „Viele Aufgaben konnte ich mit meinen Augen nicht mehr machen", sagt er. Seitdem ist er Geschäftsführer des Vereins. Genug Sehrest, um sich in seinem Büro zu orientieren, hat der 48-jährige zwar noch. Dennoch ist auch er auf digitale Technologien angewiesen. Das Wissen dafür musste er sich in vielen Kursen aneignen. Müller ist froh über diese Möglichkeit. „Der Zugang zum Internet eröffnet Menschen mit Sehschwäche neue Berufsfelder", sagt er. „Sie sind jetzt voll bürotauglich."
Er selber ist dafür das beste Beispiel. Bei der Arbeit sitzt Müller am Computer, schreibt Anträge, liest Formulare über den Bildschirm - allein. Das wäre lange Zeit undenkbar gewesen. Der Arbeitsplatz des Geschäftsführers sieht auf den ersten Blick aus wie jeder andere. Nur die Bildschirme und Tasten der Tastatur sind etwas größer.
Mithilfe der Maus öffnet Müller ein Dokument. Die Buchstaben, die vor ihm erscheinen, sind klein, zu klein. Aufgeschmissen ist der Geschäftsführer trotzdem nicht. Sein Computer hat die entsprechende Ausstattung. Mit dem Zeigefinger streicht er von links nach rechts über eine schwarze Leiste unterhalb seiner Tastatur. Langsam liest er vor: „Sehr geehrter Herr Müller ...".
Die sogenannte Braille-Zeile kann digitale Texte in Brailleschrift übertragen. Das ist eine spezielle Schrift, bei der das Geschriebene per Punktschrift erfühlbar wird. Für jeden Buchstaben gibt es eine andere Kombination an Punkten, die aus der Leiste hervortreten. Dafür ist Fingerspitzengefühl gefragt. Einfacher ist es für den 48-jährigen, sich Texte mithilfe eines Sprachprogramms, dem Screenreader, vorlesen zu lassen. Dieser funktioniert ähnlich wie Anna. Ist das Programm aktiviert, muss Müller bloß mit der Maus über eine Passage streichen und schon fängt eine Computerstimme an, zu sprechen. Manchmal reicht ihm auch schon die integrierte Lupen-Funktion, um Zahlen und Worte auf dem Bildschirm zu erkennen, so der Bremer. Die kann ihm Texte bis zu 30-fach vergrößern.
Online noch viele BarrierenInsgesamt, sagt Müller, sei die nötige Technik für Blinde und Sehbehinderte heute vorhanden, um sich online zurechtzufinden. Nur an der Umsetzung der Inhalte dort hapere es teilweise noch. Während sich Texte aus dem Internet in Braille-Schrift übertragen lassen, sind Grafiken für Menschen mit Sehschwäche zum Beispiel immer noch problematisch. Diese können Computerprogramme nämlich nicht automatisiert erkennen.
Eine EU-Richtlinie besagt deshalb, dass alle Internetseiten in Deutschland bis Ende 2018 barrierefrei sein müssen. Das bedeutet, dass Bilder mit einem Alternativtext versehen werden, der sachlich beschreibt, was auf dem Bild zu sehen ist. „Das ist oft noch nicht der Fall", sagt der Geschäftsführer. Er treffe online noch auf viele Barrieren.
Ein Stockwerk höher hat Hass den Kurs für heute beendet. Unter dem Tisch holt sie ihren Blindenstock hervor. Das iPhone packt sie in den Rucksack. So hilfreich es auch sein mag, sagt Hass, klassische Hilfsmittel ersetze es nicht. Dennoch: Dank Anna, Siri und diverser hilfreicher Apps sei ihr Leben unabhängiger geworden. Sich mit anderen virtuell austauschen, Restaurants finden, Wege navigieren - all das könne sie nun allein. Aus ihrem Alltag sei das Smartphone deshalb nicht mehr wegzudenken.
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