Schätzungsweise 3.000 Cafés und Teehäuser gibt es in London. Ob Édouard Mendy eines davon nach seinem bestandenen Medizincheck beim FC Chelsea aufgesucht hat, um im Westen Londons auf seinen zuvor unterzeichneten Fünfjahresvertrag beim Premier League-Cub anzustoßen, ist nicht bekannt. Zeit dafür hätte der von Stade Rennes verpflichtete Schlussmann auf jeden Fall gehabt. Nachdem sein neuer Coach Frank Lampard bereits am Dienstag angekündigt hatte, dass Mendy für die obligatorischen Untersuchungen im Trainingszentrum weilt, musste sich der Neuzugang noch gedulden, bis sein Wechsel offiziell wurde. Erst zwei Nächte und einen Carabao-Cup-Dreierpack von Kai Havertz später durfte er dann seinen Doppeldaumen in die Kameras strecken. Doch der neue Mann im Tor des FC Chelsea ist es gewohnt, auf seine Chancen zu warten.
Noch im Sommer 2014 stand der damals 22-jährige Torhüter ohne Verein da. Sein Vertrag beim französischen Viertligisten AS Cherbourg war nicht verlängert worden und die von seinem Berater großspurig angekündigten Jobangebote aus England entpuppten sich als leere Versprechungen. Statt im Strafraum stand der Senegalese nun in der Normandie im Wartezimmer der Arbeitsagentur. Und weil Mendy die Abläufe bei der Behörde weit weniger gut kannte als die in seinem Strafraum, wartete er ziemlich lange. Erst nach einer halben Stunde fiel ihm auf, dass er eine Wartenummer ziehen muss, um am Schalter dranzukommen.
„Wenn sie nach einem neuen Fußballverein suchen, kann ich nichts für Sie tun." - Jobcenter-Mitarbeiter zu Mendy
Als sich dann ein Fallbearbeiter den Werdegang des Torwarts anschaute, folgten auf irritierte Blicke eine knappe Antwort: „Wenn sie nach einem neuen Fußballverein suchen, kann ich nichts für Sie tun." So hat es Mendy dem Fernsehsender beIN SPORTS erzählt, als er schon lange wieder über die Begegnung in der Arbeitsagentur lachen konnte.
Als seine Schwester ihm half, den Papierkram für das Jobcenter auszufüllen, waren die Vorzeichen noch ganz andere. Mendy hatte bereits mit dem Fußball abgeschlossen und wollte wieder als Verkäufer im Einzelhandel arbeiten. Hier hatte er bereits erste Berufserfahrungen gesammelt. Doch seine Familie überredete ihn, noch ein letztes Mal auf die Karte Fußball zu setzen.
Was die Präsentation im Trikot der Blues vorwegnimmt: Mendy hörte auf die familiären Ratschläge. Im Spätsommer 2014 kehrt er auf den Trainingsplatz von Le Havre zurück, wo seine Karriere in Teenagertagen begonnen hatte. Bei seinem ehemaligen Torwarttrainer hält sich der vereinslose Schlussmann ein Jahr lang fit. Fußballspiele im Fernsehen kann er sich in dieser Zeit nicht anschauen, zu sehr nagt es an ihm, den Sprung in den bezahlten Fußball nicht selbst geschafft zu haben. Die Arbeitslosigkeit habe sich angefühlt wie ein Schlag ins Gesicht, sagt Mendy rückblickend. Erst ein Anruf aus Marseille hebt seine Laune. Nach einem Jahr ohne Mannschaft komplettiert er bei Olympique Marseille das Torwartquartett. Seine neue sportliche Heimat: Die Auswechselbänke auf den Dorfplätzen der Provence. Mendy wird als Reservekeeper der Reservemannschaft verpflichtet. Doch tief im Süden Frankreichs nimmt seine Karriere endlich Fahrt auf.
Mendy erkämpft sich einen Stammplatz bei der Zweitvertretung und spielt sich in der vierten Liga in den Vordergrund. „Marseille
war meine letzte Chance, um auf das Level zu kommen, das ich immer
erreichen wollte und für das ich jeden Morgen aufgestanden bin“, sagt
der Torwarthüne über seine Zeit beim Champions-League-Sieger von
1993. Am Saisonende unterschreibt er mit 24 Jahren seinen ersten
Profivertrag beim damaligen Zweitligisten Stade Reims. Angekommen
im bezahlten Fußball verschwinden langsam auch die Selbstzweifel,
die ihn lange Zeit begleitet hatten: „Die
ständigen Rückschläge hinterlassen Spuren. Du beginnst zu
überlegen, ob du einfach nicht gut genug bist.“ In seinem Geburtsland
Frankreich entwickelt sich Mendy innerhalb von vier Jahren vom
Ersatzkeeper der zweiten Liga zur unumstrittenen Nummer eins beim
Erstligisten Stade Rennes. Mit nur 24 Gegentoren in 28 Partien hat
der Schlussmann entscheidenden Anteil daran, dass sein bisheriger
Arbeitgeber in dieser Saison erstmals in seiner Vereinsgeschichte
in der Champions League spielt.
Auch wenn der Name Mendy weniger klangvoll daherkommt als die
bisherigen Neuzugänge Werner, Havertz oder Ziyech, ein Schnäppchen
ist der neue Schlussmann nicht. Umgerechnet 25 Millionen Euro lässt
sich der FC Chelsea die Dienste des Torwarts kosten, der bei den Blues
einen Fünfjahresvertrag unterschrieben hat. Bei der Vorstellung
von Mendy machte sein neuer Coach Lampard kein Geheimnis daraus, dass
er bei dem Transfer auf den Rat seines ehemaligen Mitspielers Petr
Cech vertraut hat, mit dem er in elf gemeinsamen Jahren an der
Stamford Bridge 13 Titel gewann.
„Come to chelsea and school kepa a bit” - Chelsea-Fans zu Mendy
Chelsea-Ikone Cech ist inzwischen als technischer Berater bei den Blues angestellt und baut auf den Spätzünder Mendy. An guten Tagen kratzt der Nationaltorwart des Senegals die Bälle in der Manier eines Handballtorhüters von der Linie und schraubt sich mit der Sprungkraft eines Basketballers durch seinen Strafraum. Bis auf wenige Wackler präsentiert sich der Cousin von Real Madrids Linksverteidiger Ferland Mendy als reaktionsstarker und zuverlässiger Rückhalt. Genau das fehlte den Londonern zuletzt. Die Auftritte des bisherigen Stammtorwarts Kepa sind mit unglücklich noch wohlwollend umschrieben. Im Sommer 2018 für die Rekordsumme von 80 Millionen Euro verpflichtet, blieb der Spanier den Beweis schuldig, dass er nicht nur der teuerste Torhüter der Welt, sondern auch der Beste ist.
Für Schlagzeilen sorgte Kepa, als er sich im Finale des Ligapokals weigerte, ausgewechselt zu werden. Auf dem Platz ist der 25-jährige immer wieder ein Unsicherheitsfaktor. In der abgelaufenen Saison war Kepa statistisch gesehen der schwächste Keeper der Premier League und wurde zeitweise auf die Bank versetzt. Zur neuen Saison sollte alles besser werden, doch in den ersten beiden Ligaspielen patzte Kepa erneut. Kurz: Mendy werden gute Chancen eingeräumt, sich als Nummer eins durchzusetzen. Geht es nach den Anhängern, dann ist der Neuzugang sowieso gesetzt. Schon Wochen vor der Vertragsunterschrift übersäten sie den Instagram-Account des Torwarts mit blauen Herzen. Spott für den bisherigen Stammkeeper gab es gratis dazu: „Come to chelsea and school kepa a bit.”
Original