Sestr
Sie tanzen, als wären sie Gliedmaßen eines einzigen Körpers. Hand in Hand umkreisen die Hochzeitsgäste den Platz, wippen Schulter an Schulter im schnellen Takt der Musik. Den rechten Fuß zur Seite, den linken Fuß nachziehen, ernst folgen sie der Choreografie. Die Kamera fährt Gesicht für Gesicht ab.
Sestr Alhamad sitzt in Tübingen vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm sieht sie Menschen, die nicht mehr dort sind, ein Dorf im , das es so nicht mehr gibt. Ihr Kopf schmerzt davon, sagt sie. Und schaut sich trotzdem ein weiteres Video an.
Manchmal schaut Sestr in ihr eigenes Gesicht, eine junge Frau unter den Tanzenden, in der Hand schwingt sie ein Tuch. Ihre Haare sind aufwendig hochgesteckt, die Augen dunkel umrandet. An ihrer Seite ihr Mann Masood, an ihrer Hand ihre kleine Tochter.
Sie hatten keinen besonderen Plan für die Zukunft, erzählt Sestr heute. Sie lebten mit 30 Verwandten in einem Haus. Sie arbeiteten auf dem Acker, fütterten die Schafe. Morgens putzte Sestr den Hof, mittags kochte sie mit den anderen Frauen. So sah ihr Leben aus.
Ihr drittes Kind war gerade auf der Welt, als die Terrormiliz des sogenannten "Islamischen Staats" ihr Dorf überfiel, die Männer erschoss und die Frauen und Kinder verschleppte. Es war der 15. August 2014.
Einen Monat später sah Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann Bilder von dem Genozid an den Jesidinnen und Jesiden im Nordirak. Im Oktober organisierte seine Regierung einen Flüchtlingsgipfel: Über einen bisher ungenutzten Passus im Aufnahmegesetz sollte ein "humanitäres Sonderkontingent" eingerichtet werden. Einstimmiger Beschluss. Im Januar reiste eine Projektgruppe zum ersten Mal in den Nordirak. Ihre Aufgabe: die schutzbedürftigsten unter den Frauen und Kindern auszuwählen, traumatisiert, auf sich gestellt. Im März 2015 saßen die ersten im Flieger nach Deutschland.
1.100 Frauen und Kinder holte Baden-Württemberg insgesamt nach Deutschland, stellte 95 Millionen Euro bereit. Sie machten einen Sprachkurs, wurden psychologisch betreut, die Kinder eingeschult. Nadia Murad, eine der Frauen aus dem Kontingent, bekam später den Friedensnobelpreis und Kretschmann viel Lob. Doch dann wurde es still um die Jesidinnen.
1.100 Menschen, die den überlebt haben und nun die Erinnerung daran überleben müssen. Drei dieser Frauen erzählen hier ihre Geschichte.
Da ist Sestr, die im Frühling zum ersten Mal das Grab ihres Mannes im Nordirak besucht hat, die nicht aufhören kann zurückzublicken.
Da ist Dîlan, deren Mann nicht nach Deutschland nachkommen darf, die gestrandet ist zwischen Hier und Dort, weder ganz weggegangen noch ganz angekommen.
Da ist Jihan, die ein Jahr ihrer Kindheit beim IS verbrachte, die zurückblickt, um ihre Zukunft darauf aufzubauen.
Die drei leben im gleichen Wohnblock an einer lauten Bundesstraße in . Während Tausende Jesidinnen bis heute vom IS gefangen gehalten werden, sind sie in die Fremde geflohen.
Sestr steht auf, stöpselt das Handy ans Ladekabel. Es darf nicht ausgehen, sie hat es immer in der Hand, telefoniert mit Verwandten oder postet Fotos von Masoods Grab, das inmitten der anderen Gräber in Kocho liegt, ihrem Heimatdorf. Seinen Namen trägt sie zweimal am Körper. Eingraviert in einen goldenen Ring, der Name neben dem Todesdatum und dann noch einmal in wackeligen Linien auf ihren linken Unterarm tätowiert - neben ihrem Namen und dem des mittleren Sohnes.
"Als wir in Syrien waren, kamen jeden Tag Flugzeuge von Baschar al-Assad und haben die Region bombardiert. Wir versteckten uns in einem Bunker. An einem Abend kamen die Männer nicht. Wir haben gesagt: 'Lass uns in unsere Hände ein paar Namen tätowieren. Falls wir sterben, sieht man, wer wir sind und wo wir herkommen.' Wir mischten Ruß mit der Muttermilch einer Frau, die noch ihr Kind stillte. Mein Sohn Miran war nicht bei mir, ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen. Deshalb habe ich seinen Namen auf meinen Arm tätowiert."
Sestr ist 33 Jahre alt, wirkt älter, wenn sie bodenlange Kleider und Sandalen trägt und jünger in Sneakern und Trainingshose, zu denen sie immer öfter greift. Sie scherzt gerne und lacht einem dann zu wie eine alte Komplizin. Wenn sie trauert, schnalzt sie mit der Zunge und schüttelt den Kopf.
Sestr Alhamad erzählt nicht vor großem Publikum, sondern hinter heruntergelassenen Rollläden. Nebensächlichkeiten schildert sie in Details, den starken Wind an dem Vormittag, als die IS-Milizen sie zur Schule riefen, ihnen Gold und Handys abnahmen und Männer und Frauen trennten; er wehte so stark, dass die Fensterscheiben herunterfielen und zerbrachen, die Luft plötzlich schmutzig wurde. Sie erzählt, wie ihr Mann seine Zigaretten auf den Tisch legte, bevor sie von zu Hause weggingen. Dass sie die Telefonnummern ihrer Angehörigen auf kleine Zettel schrieb und zwischen den Haaren versteckte. Wie sie Schlafsirup, der für ihren kranken Sohn gedacht war, in den Tee ihrer Entführer mischte, um zu fliehen.
Von den Misshandlungen, dem Hunger, der Angst hingegen berichtet Sestr mit nüchterner Allgemeinheit. Reiht Männer, denen sie gehörte, und Orte, an die sie verschleppt wurde, aneinander wie Pfeiler für einen Zaun, durch den keine Einzelheiten hindurch kommen können.
Das Trauma einer ganzen Gemeinschaft
Am 3. August 2014 griff der IS die nordirakische Region Sindschar an und nahm Dorf für Dorf ein. Er erklärte die Jesidinnen und Jesiden zu Ungläubigen und tötete in wenigen Tagen mehr als 5.000 Menschen. Mindestens 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt und versklavt. Bis heute bleiben die Zahlen eine Schätzung, denn immer noch sind Menschen verschollen oder in Gefangenschaft der Milizen, auch nach deren militärischer Niederlage. 20 Massengräber in der Sindschar-Region wurden geöffnet, 65 weitere hat man bereits gefunden, aber die Leichen noch nicht exhumiert. Das Grab, in dem Sestrs Mann lag, wurde 2020 geöffnet. Sie schickte eine Blutprobe ihrer Tochter nach Bagdad, dort glich man die DNA ab.
Im April 2021 flog sie mit den Kindern in den Irak, zu ihrem alten Haus in Kocho, zu seinem Grab. Sie fand Kleidung von ihm und brachte sie mit nach Deutschland. Seitdem hat das Trauma sie wieder fest in der Hand. Manchmal schließt sie sich mit seinen Kleidern ein, um heimlich zu weinen.
"Immer wenn jemand meine Kinder gefragt hat, wo ihr Vater ist, haben sie gesagt: Beim IS. Ich habe die Kinder mitgenommen, damit sie sehen, wo ihr Vater wirklich ist."
Ein Nachmittag im Sommer, es klingelt an der Tür. Sestr hat drei Erzieherinnen eingeladen, die ihre Kinder seit der Ankunft begleitet haben. Nach den Ferien wird ihr jüngster Sohn eingeschult und sie will sich verabschieden. Die Kinder umringen sie: Maisaa, die gerade elf geworden ist und so oft es geht Englisch spricht. Der achtjährige Miran, den Sestr erst nach der IS-Gefangenschaft im Flüchtlingscamp wiedersah und zuerst nicht erkannte. Und der siebenjährige Mishaal, der manchmal aus dem Nichts wütend wird. Stolz zeigen sie ihre Schultüten, blättern in ihren Heftern aus der Kindergartenzeit, plappern. Sestr lächelt. Deutschland – das ist jetzt vor allem die Heimat ihrer Kinder.
"Weißt du noch, als ihr angekommen seid? Wie wir uns mit Hand und Fuß verständigt haben?", fragt eine Erzieherin. "Und schaut mal, wo ihr heute steht!"
Wo sie stehen, lässt sich nicht an der Größe der Wohnung oder dem Sprachniveau ablesen. Was sie auch für die Zukunft planen, ihr Trauma wartet dort bereits. Die Kinder spielen vor den Augen der Getöteten und Vermissten, deren Bilder in großen Rahmen an der Wand hängen. Sie gehen zur Therapie und zum Spielplatz. Sestr macht einen Führerschein – und bleibt doch an den meisten Tagen zu Hause. Ihr Alltag und ihre Vergangenheit vermischen sich wie der Sesam und die bunten Zuckerstreusel auf dem Kuchen, den Sestr am Geburtstag ihrer Tochter backt.
Es gibt einen Satz, der im Gespräch mit den Überlebenden immer wieder fällt, auch jetzt, bei Sestr Alhamad: "Ich bin als Jesidin geboren und werde als Jesidin sterben." Er hat an Bedeutung gewonnen, seit die IS-Milizen sie durch Zwangsehen zu konvertieren versuchten, und hier in der Fremde wird er zu einem Mantra. Auch ihre Kinder sollen zu Hause Kurdisch sprechen, sollen später mal Jesidinnen und Jesiden heiraten, wie es ihre Kultur traditionellerweise vorschreibt. Sollen, wenn sie nach ihrer Religion gefragt werden, dazu stehen, dass sie jesidisch sind.
Jesidin zu sein heißt für Sestr auch, verfolgt zu werden, ohne einen Grund dafür zu kennen.
Die Jesidinnen und Jesiden haben ein eigenes Wort für ihre Verfolgung: Ferman. Der Sindschar-Genozid von 2014 war der 74. Genozid an der ethnoreligiösen Minderheit, der weltweit rund eine Million Menschen angehören. Die Verfolgung ist zu einem Teil ihrer kollektiven Geschichte geworden. Nicht nur das eigene, sondern das Trauma einer ganzen Gemeinschaft und der früheren Generationen lastet auf ihnen. Für die Leiden aber, die daraus folgen, hat Sestr Alhamad kein spezielles Wort. Sie sagt nicht, sie hat eine posttraumatische Belastungsstörung. Stattdessen leidet ihr Körper, dröhnt ihr Kopf, der Schmerz formt sich zu Geschwüren im Magen und Entzündungen im Handgelenk.
"In den ersten drei Jahren habe ich das Zimmer verdunkelt und wenn ich traurig war, habe ich mich selbst geschlagen. So konnte ich mich beruhigen. Mittlerweile schlage ich mich nicht mehr, aber weinen tue ich trotzdem."
Dîlan
Im gleichen Haus, ein Stockwerk höher, schichtet Dîlan Auberginen in einem großen Topf. Auf der Anrichte stapeln sich frisch gebackene Fladenbrote und der mikrowellengroße Ofen spuckt minütlich weitere aus. Ihre eineinhalb Jahre alte Tochter Layla beginnt im Nebenzimmer zu quengeln. Dîlan geht mit ihr ins Bad, durch die geöffnete Tür dringt ihr Gesang: "Hände waschen, Hände waschen muss ein jedes Kind; Hände waschen, Hände waschen, bis sie sauber sind." Sie stolpert noch oft über deutsche Worte, aber Kinderlieder gehen ihr mühelos über die Lippen.
Dîlan kommt aus Kocho, so wie Sestr. Sie lebten nur wenige Straßen voneinander entfernt, tanzten gemeinsam bei Hochzeiten auf dem Dorfplatz. Heute trennen die beiden ein Treppenhaus und ein langer Flur. Sie will sprechen, aber nicht unter ihrem echten Namen – und ohne in die Vergangenheit abzutauchen.
Auf dem Sofa strampelt ihre Tochter. "Baba", brabbelt sie. "Ja, Papa", sagt Dîlan und seufzt.
Dîlans Mann lebt noch, aber nicht bei ihnen. Er blieb in dem Flüchtlingscamp im Irak, das sie selbst im Dezember 2015 verlassen hat, als sie in das Sonderkontingent aufgenommen wurde. Er überredete sie damals zu gehen. In zwei Jahren, so sagten ihnen die Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter aus Deutschland, könne er nachkommen.
Seit fast sechs Jahren in der Schwebe
Dîlan hat langes Haar, das ihr bis an die Hüften reicht. Auch wenn sie lächelt, bleiben ihre Augen ernst. Manchmal wird ihr Blick glasig und sie schaut auf eine unbestimmte Stelle auf dem Boden vor ihr. Dann legt sich eine Schwere über sie, die nur ihre Töchter vertreiben können. Die ältere war gerade erst geboren, als der IS Kocho überfiel. Heute ist sie acht Jahre alt und stellt viele Fragen, die Dîlan nicht beantworten kann: Wo die Narbe auf ihrer Stirn herkommt oder warum ihr Vater sie nicht von der Schule abholt.
Der Antrag auf Familiennachzug, den sie nach zwei Jahren stellte, wurde 2019 abgelehnt. Sie sind nicht das einzige Ehepaar, dem es so geht. 34 weitere Anträge von Frauen aus dem Kontingent blieben erfolglos. Denn der Sonderstatus, mit dem sie selbst damals gekommen sind, gilt nicht für den Rest ihrer Familie. Wer nachziehen will, muss regulär Asyl beantragen – und hat schlechte Chancen, einen positiven Bescheid zu erhalten, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Jesidinnen und Jesiden nicht mehr durch den IS verfolgt sieht. Diese Einschätzung teilte im Mai 2021 auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in zwei Asylverfahren. Ein humanitäres Projekt stößt an seine politischen Grenzen. Ihre jüngere Tochter Layla ist in Deutschland geboren, nachdem Dîlan ihren Mann im Frühling 2019 das letzte Mal besucht hatte. Layla hat ihren Vater noch nie gesehen, aber fragt trotzdem ständig nach ihm, während er ihr per Videoanruf beim Aufwachsen zusieht. Noch einmal besuchen können sie ihn nicht – denn um einen Reisepass für Layla ausstellen zu lassen, braucht es die Unterschrift des Vaters.
Die betreffenden Frauen und Kinder hätten gar nicht aufgenommen werden dürfen, wenn ihre Familie damals vollständig gewesen sei, schreibt das baden-württembergische Justizministerium in einem Brief an Dîlan, den sie jetzt in der Hand hält. "Das hat man uns damals nicht gesagt."
"Ich war neun Monate in IS-Gefangenschaft und hatte gerade erst meinen Mann zurück. Wenn ich gewusst hätte, dass ich ihn wieder verlieren sollte auf diese Art und Weise, wäre ich niemals hergekommen."
Seit fast sechs Jahren warten sie in dieser Schwebe.
"Der August ist immer die schwerste Zeit für uns", sagt Dîlan später aus dem Nichts, als sie gemeinsam mit Sestr auf einer Decke in einem Tübinger Park Hühnchen und Reis isst. Wenn der Genozid sich jährt, ist sie schon früh morgens wach und findet keine Ruhe mehr. Die Erinnerungen ziehen in schnellen Bildern vor ihrem inneren Auge vorbei. Die Kinder springen um sie herum.
"Ich will nächstes Jahr im August in den Irak fliegen", sagt Sestr. Sie kommt nicht los von der Heimat, auch wenn die das Trauma aufbrechen lässt.
Dîlan schüttelt den Kopf. "Ich nicht." Sie will nicht zurückschauen, nicht in der Vergangenheit hängen bleiben, sondern Pläne für die Zukunft machen. Wenn nur ihr Mann endlich kommen dürfte.
"Es ist überall schlimm im August", bemerkt Sestr. In Deutschland. Im Irak. Überall ist die Erinnerung. Zum kommenden Jahrestag will sie in ihrem alten Dorf sein.
Zwei Frauen. Für die eine ist die Vergangenheit wie eine Farbfotografie, die allmählich verblasst, verblassen soll. Für die andere ist die Vergangenheit ein Ort der Zuflucht. Sie muss festgehalten werden, das ist sie denen schuldig, die sie verloren hat.
Jihan
Derselbe Wohnblock, das Haus nebenan, erster Stock: In einem Zimmer, dessen Fenster zur Bundesstraße zeigt, sitzt Jihan Alomar im Schneidersitz auf ihrem Bett. Sie ist stark geschminkt, was sie älter aussehen lässt als 17. Neben ihrem Bett lehnt ein großer Spiegel, in dem sie sich jedes Mal prüfend ansieht, wenn sie daran vorbeigeht.
Jihan geht gerne shoppen und hat 36.000 Follower auf TikTok. Eine junge Frau, die sich ihren Weg in die Öffentlichkeit sucht. Sie hat ein Buch geschrieben, über ihre Zeit in der Gefangenschaft. Gerade wurden die ersten Exemplare gedruckt, eines davon schlägt sie jetzt auf und liest stockend eine Passage vor:
"Die zwei Geschäfte waren völlig überfüllt, trotzdem zwang der IS mit vorgehaltenen Gewehren alle, hineinzugehen. Da ich sehr klein war, konnte ich nicht über die Menschenmenge sehen und rief deshalb die ganze Zeit den Namen meines Vaters, aber keiner hörte mich. Jeder um mich herum schrie den Namen seines Vaters, Bruders, Ehemanns oder Sohnes."
Sie schaut auf. "Es ist gut, dass ich noch mal übe, bevor ich es vor den ganzen Leuten lese."
Einige Tage später, zum Jahrestag des Genozids, wird sie nach Nürnberg fahren, um dort auf einer Gedenkfeier zu sprechen. Am selben Tag soll ihr Buch erscheinen.
Bevor der IS kam, spielte sie gern mit Murmeln. Im Sommer, wenn es zu heiß wurde, schliefen sie auf den flachen Dächern ihrer Häuser. Sie putzte gern, auch wenn sie es nicht musste, weil sie es mochte, wenn die Erwachsenen sie lobten. Sie war zehn Jahre alt, als der IS sie, ihre Mutter und ihre sechs Geschwister gefangen nahm.
"Ich wollte ein Buch schreiben und ich habe es geschrieben."
Was danach geschah, hat sie auf 121 Seiten detailliert zu Protokoll gegeben: Wie die Milizen ihre Familie entführten und nach und nach voneinander trennten. Wie sie zum ersten Mal jemanden sterben sah. Wie die gesichtslosen Kämpfer hinter den schwarzen Masken sie verunsicherten. Wie ihre Mutter ihr erklärte, was mit den Mädchen geschah, die von den Männern ausgesucht wurden, wie sie Jihan deswegen unter dem Stoff ihres Rocks versteckte – mit Erfolg.
"Meine Mutter versuchte verzweifelt, eine Schere zu finden. Sie sah die letzte Chance für mich, weiter als Junge zu überleben. (…) Ich konnte nicht einmal weinen. Mein Stolz fiel mit meinen Haaren zusammen auf den verdreckten Boden. In diesem Moment wäre ich am liebsten nie als Mädchen auf die Welt gekommen."
Gut eineinhalb Jahre später, am 26. Januar 2016, landete ihr Charterflugzeug in Stuttgart. Ein Bus brachte sie nach Tübingen. Ihr wurde schlecht, weil der IS sie in Bussen und Autos eng aneinander gedrängt von ihrer Heimatstadt Sindschar über Mossul bis nach Rakka in Syrien gebracht hatte. Sie sah zum ersten Mal spitz zulaufende Dächer und begann zu verstehen, dass die Menschen um sie herum, die Betreuerinnen und Dolmetscherinnen, ihr nichts tun würden, erzählt sie. Sie dachte an das, was vor ihr lag.
Drei Jahre später beginnt sie mit ihrem Buch: Sie erzählt, ein Freund aus Deutschland schreibt auf.
Kinder und Jugendliche sollen ihre Geschichte im Schulunterricht lesen. Denn in den Geschichtsbüchern, sagt Jihan, stehe nichts von dem Genozid. Sie selbst aber kann ihr Buch nicht lesen, bis Seite 18 komme sie, dann müsse sie aufhören, weil in ihrem Kopf der Film losgeht. "Aber ich habe es geschafft", sagt sie und lächelt wieder auf ihre höfliche Art. "Ich wollte ein Buch schreiben und ich habe es geschrieben."
Auf den letzten Seiten ist eine Grafik von Jihans Familie abgedruckt: drei Generationen, graue Figuren, von denen bis auf den kleinen Bruder Ameer alle Männer mit einem Kreuz durchgestrichen sind. Jihans Figur sticht rot hervor, sie steht in der Mitte ihrer sechs Geschwister. Ganz links ihre Schwester Sausan, die damals 17 Jahre alt und im zweiten Monat schwanger war. Unter ihrem Namen steht, etwas kleiner: "in IS-Gefangenschaft". Bis heute wissen sie nicht, wo sie ist. Im Buch schildert Jihan die Szene, in der sie ihre Schwester das letzte Mal sah, und schreibt:
"Ich versuchte, die Tränen runterzuschlucken und wusste, meinen Stolz, eine Jesidin zu sein, kann niemand brechen. Mein Vater hat mir diesen Mut vorgelebt. Ich wollte jetzt stark sein und mir vor diesen IS-Männern keine Blöße geben."
Tränen runterschlucken, die jesidische Identität bewahren, sich keine Blöße geben – darum kämpfen Überlebende bis heute; auch in Deutschland, wo mit 150.000 Mitgliedern die größte jesidische Diaspora-Gruppe lebt. Ihr Stigma isoliert sie – denn wenn jesidische Frauen einmal mit IS-Kämpfern, also Männern einer anderen Religion, zwangsverheiratet waren, gehören sie und auch ihre Kinder aus konservativer Sicht nicht mehr zur Gemeinschaft. Das wusste auch der IS – und machte die Versklavung und Vergewaltigung der Frauen zur Waffe seines Genozids. Seitdem hat die jesidische Gemeinschaft ihren Blick auf diese Frage verändert und trotzdem bleibt der Umgang mit den Überlebenden schwierig: Sich ihres Schicksals anzunehmen heißt, sich erneut dem gemeinsamen Trauma auszusetzen.
"Ich fände es gut, wenn wir unsere Religion verstärken könnten", sagt Jihan noch und meint: Dass Jesidinnen und Jesiden Männer oder Frauen heiraten dürfen, die einer anderen Religion angehören – oder dass man zum Jesidentum konvertieren dürfe. "Dann könnten wir eine große Religion werden, wie das Christentum oder der Islam." Sie überlegt kurz und wedelt den Gedanken mit einer Hand beiseite. "Aber viele würden jetzt sagen, dass ich Unsinn rede."
Nürnberg, 3. August 2021, der offizielle Gedenktag des Genozids. In weißen Turnschuhen betritt Jihan die Nürnberger Frauenkirche, tauscht sie aber gleich gegen schwarze Sandaletten.
Sie tritt ans Mikrofon, ihre Stimme hallt durch die Kirche, sie blickt zu ihrer Mutter, die vor ihr auf einer der Holzbänke sitzt. "Viele Frauen befinden sich noch immer in der IS-Gefangenschaft. Wie soll man sich das vorstellen?"
Nach den ersten Sätzen bricht ihre Stimme. Sie klammert sich an das steinerne Pult. "Sieben Jahre lang mit Menschen zu verbringen, die dir das Liebste genommen haben." Unter Schluchzen spricht sie weiter. Zum ersten Mal weichen eingeübte Sätze einer kindlichen Trauer.
Als der nächste Redner zu sprechen beginnt, steht ihre Mutter auf und setzt sich vor die Collage mit den Bildern der Vermissten, die sie in einer Ecke der Kirche aufgestellt hat. Sie beginnt zu klagen, so laut, dass ihr Weinen die Worte des Redners übertönt. Sie bleibt auch noch sitzen, als die Veranstaltung schon zu Ende ist, jetzt still blickt sie in die Gesichter der Abwesenden.
Jihan posiert für Fotos, beantwortet geduldig Fragen, gibt ein kurzes Interview. Ersetzt mit ihren Worten die Sprachlosigkeit der Älteren. Ihr Buch hält sie vor sich wie ein Schutzschild. Eine Rednerin verabschiedet sich im Vorbeigehen: "Ich hoffe, ich werde noch viel von dir sehen."
"Ja, das wirst du", sagt Jihan, ohne zu zögern, an diesem Jahrestag, an dem Vergangenheit und Zukunft so nah beieinander liegen.