Um sein Forschungsthema zu beschreiben, zieht der Mathematikprofessor, der das Institut für Algebra und Geometrie der Universität Magdeburg leitet, wiederum einen Ball als Beispiel heran: „Ein Fußball mit abgeflachten Seiten ist ein klassisches Polytop", sagt er. Dieser ist ein konvexer geometrischer Körper, der aus Fünf- und Sechsecken zusammengesetzt ist. Auch Würfel, Pyramiden und Prismen sind Polytope. Ihre Seiten werden von Vielecken gebildet und sie treten in beliebiger Dimension auf. Liegen ihre Ecken in einem vorgegebenen Gitter, sind es Gitterpolytope. In der Welt der Gitterpolytope sind die Koordinaten jeder Ecke ganze Zahlen, und sie bestimmen die Form und Lage des Körpers . Der Rand des Gitterpolytops begrenzt, welche Punkte innerhalb und welche außerhalb dieses Körpers liegen. Nills Aufgabe ist es, diese geometrischen Objekte mathematisch zu beschreiben und zu klassifizieren, Vermutungen aufzustellen und zu beweisen und interessante neue Beispiele zu entdecken und deren Eigenschaften zu untersuchen. „ Ähnlich wie ein Geologe ein seltenes Kristall analysiert, ein Biologe Gene katalogisiert oder ein Physiker neue Teilchen entdeckt ."
Prof. Dr. Benjamin Nill mit einem Modell eines Polytops. (Foto: Harald Krieg)
Die Alltäglichkeit der PolytopeJede einzelne Größe, die bekannt ist, bildet dabei eine Koordinate im Gitterpolytop. Je mehr Koordinaten angegeben werden, desto höher ist die Dimension des dabei entstehenden Körpers. „ Es gibt keinen Grund, in der dritten Dimension aufzuhören ", erklärt Benjamin Nill. Auch, wenn es schwerfällt, sich Räume jenseits davon vorzustellen - mathematisch gesehen ist dies unproblematisch - und sehr nützlich für viele Fragestellungen. In seinen Berechnungen berücksichtigt Nill nicht nur Körper in der vierten, sechsten oder zehnten Dimension. Mitunter ist es notwendig, auch in der achttausendsten oder zehntausendsten Dimension zu rechnen.
Um das Verfahren der Gitterpolytope auf konkrete Fragen anzuwenden, müssen die Mathematiker Einschränkungen definieren. Diese bestimmen, wo die Grenzen des Gitterpolytops verlaufen: „Eine Fabrik kann nur eine bestimmte Menge Güter in einer bestimmten Zeit produzieren, oder ich habe nur zwei Laster, die die Waren transportieren und die zwischendurch auch aufgetankt werden müssen", erläutert Benjamin Nill. „ Alle diese Einschränkungen kann man in Formeln fassen ." Ausschlaggebend ist vor allem eines: Die Koordinaten müssen ganze Zahlen sein. Dadurch sind die möglichen Lösungen Gitterpunkte, die an der Grenze oder innerhalb des Polytops liegen müssen, das den Prozess mit allen gegebenen Einschränkungen beschreibt. Denn nur dann sind alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt. Durch ein algorithmisches Verfahren wird dann mathematisch bestimmt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Gewinn am größten oder die Transportkosten am niedrigsten sind . „Unvorstellbar viele Unternehmen arbeiten mit diesen Analysen", betont Benjamin Nill. „ Die Optimierung ist wahrscheinlich eine der Hauptanwendungen der Mathematik heutzutage ."
Die Mathematik als faszinierende ReiseDoch für den Professor liegt die Faszination für sein Fachgebiet nicht darin, dass es sich wunderbar auf alle möglichen Bereiche des Lebens und der Wirtschaft anwenden lässt. Das „Spiel des Geistes", das Jonglieren mit Zahlen und Formeln, die Mathematik an sich hat ihn schon früh in ihren Bann gezogen. In der Begabten-AG der Schule löste er erstmals Probleme der Hochschul-Mathematik und entdeckte, dass diese Wissenschaft ein fantasievoller, kreativer Prozess ist - und nicht umsonst traditionell den Geisteswissenschaften zugeordnet wurde. „Homöomorphismus", „imaginäre Zahlen" oder „Mächtigkeit des Kontinuums" - die Sprache der Mathematik war dabei wegweisend: „ Diese Begriffe haben etwas in mir ausgelöst, es war wie eine Schatzsuche, wie eine Reise in ferne Länder. Ich wollte wissen, was dahintersteckt ."
Mitunter dauert es Jahre oder Jahrzehnte, bevor es soweit ist. Doch manchmal steht am Ende des Weges auch das Scheitern . „Formuliert man eine Vermutung, kann man sich nie wirklich sicher sein, dass man sie auch lösen kann", beschreibt Benjamin Nill das Dilemma eines Mathematikers.
Die wichtigste Eigenschaft eines MathematikersBenjamin Nill weiß, wovon er redet. Schließlich hat er gerade gemeinsam mit Kollegen ein mathematisches Problem gelöst, an dem Mathematiker bereits seit über 30 Jahren grübelten . Es ging um die Frage, welches Volumen ein Gitterpolytop maximal einnehmen kann, wenn genau ein Gitterpunkt im Inneren des Polytops vorhanden ist. Die Lösung zum Problem offenbarte sich Benjamin Nill schließlich, als er eine Veröffentlichung von Gennadiy Averkov las, eines Kollegen am Institut für Mathematische Optimierung. Beide hatten getrennt voneinander Teilprobleme der Frage gelöst - aus diesen konnte letztlich die entscheidende Formel entwickelt werden. „ Das ist aber nur der Anfang ", schmunzelt Benjamin Nill. „Wir wollen auch wissen, wie die Formel für zwei oder drei, ja für alle Gitterpunkte aussieht."
Die Aussicht darauf, dass die Antwort dazu möglicherweise wieder erst in Jahrzehnten gefunden wird, scheint ihn nicht abzuschrecken. Warum auch - schließlich hat er die wichtigste Eigenschaft eines Mathematikers: Durchhaltevermögen . Und auch ein wenig Risikobereitschaft. Denn: „Oftmals verstecken sich gerade hinter jenen Fragen, die besonders schwierig zu lösen sind, die wirklich spannenden Themen."
Jenseits der 3. Dimension Heike Kampe