„Merkel länger an der Macht als Hitler... und kein Stauffenberg in Sicht" stand auf der Protesttafel, die der langjährige Rechtsextremist und Unterstützer der „Identitären Bewegung", Sven Liebich, am Samstag durch Halle an der Saale schleppte. Theatralisch trug der ehemalige „Blood&Honour"-Aktivist dazu - gleich Claus Schenk Graf von Stauffenberg - eine schwarze Augenklappe. Am 20. Juli 2019, dem 75. Jahrestag des gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler, wurde der Offizier der Reichswehr von Liebich benutzt, um die verhasste Kanzlerschaft von Angela Merkel mit dem verbrecherischen NS-Regime gleichzusetzen und ein gewaltsames Ende zu fordern. Nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zeigt sich die rechte Szene wie zu erwarten, wenig geläutert.
Bewegung „blutet aus von Demo zu Demo"Sven Liebich war wütend auf die Organisations-Planer der „Identitären", die er als ortsfremd verortete und denen er Versagen vorwarf: die Bewegung „blutet aus von Demo zu Demo". Antifaschistische Blockaden und dem Protest von rund 3000 Gegendemonstranten war es zu verdanken, dass ein Aufmarsch der Rechtsextremen mit den gelben Spartaner-Wimpeln in der Bundesrepublik erneut misslang. Unter dem Motto „Europa verteidigen. Es bleibt unsere Heimat" wollte die „Identitäre Bewegung" (IB) unter Führung des Österreichers Martin Sellner und von Daniel Fiß aus Rostock ihre völkisch-nationalistischen Bestrebungen weiter vorantreiben. Vollmundig hatte „Identitären"-Chef Fiß angekündigt, es werde eine kraftvolle Demo vom Hauptbahnhof geben, bevor es dann ab dem zentralen Punkt in der Adam-Kuckhoff-Straße 16 richtig losgehe. Der Plan misslang, jeder suchte Schuldige für das eigene Versagen. Aufgebracht twitterten „Identitäre" ihre Wut auf die Polizeieinsatzkräfte, die nicht gewillt seien, die Blockaden zu räumen. Henryk Stöckl, „ungelernter Privat-Journalist" und harmlos-naiv auftretender Livestreamer interviewte am Samstag in Halle den aufgebrachten Liebich, der den Anmeldern der IB einen „riesengroßen Fehler" im Hinblick auf die Organisation vorwarf und sogleich forderte, die „einzige Option ihre Ehre zu retten", sei eine wöchentliche Demonstration in Halle auf dem Marktplatz.
Liebich selbst, der trotz eines Platzverweises der Polizei versuchte, auf dem Dach eines Autos eine Spontankundgebung abzuhalten, wurde vorübergehend festgesetzt. Zu alledem erhielt der langjährige Haller Rechtsextremist eigenen Angaben zufolge am Abend im „Flamberg" auch noch Hausverbot, ausgesprochen durch einen führenden IB-ler. Nicht alle sollen damit einverstanden gewesen sein, twitterte Sven Liebich: „Martin Sellner und Mario Müller äußerten dafür Unverständnis, waren aber auch lediglich Gäste." Till W. sei dafür verantwortlich und der, so Sven Liebich, „machte an dem Tag eindeutige Arbeit des Verfassungsschutzes."
AfD-Kommunalpolitiker hält eine kurze RedeWährend Headliner Martin Sellner noch am Hauptbahnhof von Halle festsaß, begingen rund 200 Anhänger der IB in der Adam-Kuckhoff-Straße 16 am frühen Nachmittag vor dem kunterbunt beschmierten „Haus Flamberg" ein „Sommerfest". „Defend your clan - Arm in Arm" stand als Parole auf dem Shirt eines Besuchers. Ein bärtiger Liedermacher sang und AfD-Kommunalpolitiker Sven Ebert hielt eine kurze Rede. Es wurde viel gefilmt und viel in Handykameras gelacht. Die „IB Ruhrpott" bedankte sich bei Twitter für ein „gelungenes Straßenfest". „Neurechte" Prominenz war kaum erschienen. Der sachsen-anhaltinische AfD-Landtagsabgeordnete Jan Wenzel Schmidt scheut nach wie vor nicht den Kontakt zu der Gruppe, die Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutz ist. Wenzel beschäftigt auch Mitarbeiter mit NPD-Vergangenheit in seinen Parteibüros. Er twitterte am 20. Juli: „Vollkommen friedlich" gehe es bei der IB zu, es herrsche eine „Seelenruhe", „so sehen also angebliche rechtsextreme aus..." Der Spiritus Rector der Szene, Götz Kubitschek, wurde nicht gesehen. Seine Ehefrau, Ellen Kositza kommentierte das Geschehen unweit des eigenen Ritterguts per Twitter. Am Samstagabend postete sie das Bild eines Lagerfeuers und schrieb dazu: „Soeben tun wir mal was fürs Klima!" Und weiter: „Fürs Familienklima, meinte ich. Grad wird draußen laut & schön gesungen."
Pegida-Drahtzieher Siegfried Daebritz will dagegen in Halle dabei gewesen sein, er schrieb: „war gut in #hal2007, bis bald!" und forderte dazu auf, an der nächsten Pegida-Demonstration in Dresden teilzunehmen. Security-Unternehmer Daebritz arbeitet seit Jahren unermüdlich an der Vernetzung nationalistischer Strukturen. Am 12. Juli ließ der Mann, der über gute Kontakte ins kriminelle Rocker- und Hooliganmilieu verfügt, bei Facebook wieder einmal die Maske fallen. Auf Kritik von Pegida-Gegnern reagierte er mit folgenden Sätzen: „... schon vor Pegida bewegte ich mich beruflich wie auch privat jahrelang in „Szenen", deren allgemeines Gefahrenpotenzial um ein vielfaches höher lag und liegt, als ihr Pappnasen es euch (...) auch nur im entferntesten vorstellen könnt. Knarre am Kopf, Machete am Hals, nächtliche Hausbesuche, alles schon da gewesen..."
„Nichts als eine Propagandablase" gebliebenDie „Identitäre Bewegung" scheint aus dem Ruder gelaufen. Von perfektem Timing blieb nicht viel übrig. Dabei lebt die IB ansonsten von exakt geplanten Flashmobs und Störaktionen. Aufmärsche galten lange nicht als Metier der Gruppe, die zwar mit spektakulären Aktionsbildern von sich Reden machte, doch eigene Akteure sollten dabei weitestgehend anonym bleiben. Dem Umgang mit Gegenprotesten scheint die Aktionsgruppe nicht gewachsen. Selten konnte sie die Straße für sich behaupten. Dabei stammen Sellner wie auch Fiß aus dem rechtsextremen Kameradschaftsmilieu. Die „Identitären" könnten an ihre Grenzen gelangen, der Schwung lässt nach. Veranstaltungen im „Flamberg" zeigten in diesem Jahr bislang wenig Resonanz. Der Verlust der eigenen Deutungshoheit durch antifaschistische Outings und journalistische Recherchen, verunsichert wohl. Andere wichtige Protagonisten wanderten in scheinbar lukrative Szene-Jobs im Umfeld von AfD oder „Ein Prozent" ab. Beobachter sind der Ansicht, dass die „Identitären" ihren Zenit überschritten haben, heißt es auch beim Internetportal „Störungsmelder", deren „Zugkraft in der Öffentlichkeit" sei verloren. Ein Vertreter des brandenburgischen „Presseservice Rathenow" bewertet den Versuch sich in Halle mit Parolen und einem Aufmarsch zu festigen, als misslungen. „Dank des engagierten Gegenprotestes blieb nichts als eine Propagandablase".
Zuletzt war auch der Vorzeige-„Identitäre" Martin Sellner in Österreich massiv in die Kritik geraten, seitdem bekannt wurde, dass der Attentäter und Rechtsterrorist aus dem neuseeländischen Christchurch, der 50 Menschen ermordete, ihm eine 1500 Euro-Spende für die IB überwiesen hatte. Gegen den Wiener Kaffeehausbesucher und Blogger Sellner und dessen Gruppe wird im Nachbarland wegen des Verdachtes der Gründung einer terroristischen Gruppierung ermittelt. Stundenlang saß Martin Sellner am Hauptbahnhof in Halle fest. Ihn umgab ein Pulk von Sympathisanten, darunter auch eine Gruppe gewaltbereiter Neonazis, die sich „Aryans" nennen, von denen einige am 1. Mai 2017 brutal auf Gegendemonstranten losgegangen waren. Zwei wurden verurteilt. Kameradschaftsanhänger der „Division Sachsen-Anhalt" standen ebenso gelangweilt herum. Schließlich soll Sellner es nach vielen Versuchen mit einem Taxi durch die Blockaden der IB-Gegner geschafft haben. Auf der Rückfahrt nach Österreich legte er dann später, laut Twitter-Meldung, einen „Stopp in Walhalla", der Ruhmeshalle nahe Regensburg, ein. Livestreamer Henryk Stöckl verabschiedete sich am Samstagabend ziemlich eilig, als im Hintergrund seines Videos in einem Bahnhof ein Rechtsextremer lauthals rief: „Der Holocaust ist eine Lüge".