Es gibt zurzeit viele Gründe, sich gegen den Beruf des Journalisten zu entscheiden. Die Auflagen der meisten Zeitungen sinken, die Budgets schrumpfen, Redakteursstellen sind rar. Auch meine Großeltern hatten davon Wind bekommen.
Als sie im März dieses Jahres erfuhren, dass ich Hospitant im Politikressort der ZEIT werden könnte, versuchte meine Oma, mich zum wiederholten Mal davon zu überzeugen, doch lieber Zahnarzt zu werden. Auch mein Großvater war mit meinem bisherigen Werdegang nicht sonderlich glücklich, hatte der Enkel doch Politikwissenschaft in Marburg studiert, dieser "roten Kaderschmiede", wie mein Opa sich gern empörte. Nun setzte er auf Abschreckung: Für eine Hospitanz bei einer solch renommierten Wochenzeitung müsse ich doch vorab monatelang Stenografiekurse besuchen. Der einzige Lichtblick war für ihn der Umstand, dass "min Jung" bald auf einem Flur mit Helmut Schmidt sitzen würde. Mein Großvater verehrte den Altkanzler, denn Hans Soltau und Helmut Schmidt einten nicht nur ihre Initialen, beide waren auch Hamburger, Offiziere unter Hitler, brillante Redner - und erklärten gern die Welt. Natürlich musste ich meinem Opa versprechen, den Herausgeber der ZEIT zu grüßen.
Politisch empfand ich dieses Jahr als unerträglich. Dschihadistischer Terror, fremdenfeindliche Anschläge, ertrinkende Flüchtlinge, siegende Rechtspopulisten in Europa - angesichts dieses Stroms beunruhigender Nachrichten fühlte ich mich ohnmächtig. Als ich Anfang Oktober das erste Mal das Pressehaus am Hamburger Speersort betrat, hoffte ich auch, Antworten auf die Komplexität dieser Welt zu finden oder zumindest Orientierung.
Meine Verunsicherung übertrug sich anfangs allerdings auch auf das Alltägliche. Schon beim morgendlichen Blick in den Kleiderschrank fing es an. Eine scheinbar stillschweigende Übereinkunft in der Redaktion hatte einen komplexen Dresscode hervorgebracht - nach einem für mich undurchsichtigen Prinzip wechselte sich je nach Wochentag und Konferenzplan legere Freizeitbekleidung mit Anzug und Krawatte ab. Nur am letzten Tag der Arbeitswoche herrschte Gewissheit: In der legendären Freitagskonferenz des Politikressorts traf man jede Woche auf die Grandseigneurs der ZEIT, um über das Weltgeschehen zu diskutieren. Während sich in anderen Ressorts im Rahmen des casual Friday ein zwangloses Vorwochenend-Outfit durchgesetzt hatte, schien für diese Veranstaltung der beste Anzug gerade gut genug. Helmut Schmidt hatte nur bis zum Sommer regelmäßig an der Freitagskonferenz teilgenommen. Die Grüße meines Großvaters, der bereits im Frühjahr verstorben war, konnte ich ihm nicht mehr ausrichten.
An Helmut Schmidts Todestag, dem 10. November 2015, versammelten sich am späten Nachmittag die Mitarbeiter der ZEIT im großen Konferenzraum. Zu Ehren des Verstorbenen sangen alle sein Lieblingslied, Der Mond ist aufgegangen. Und obwohl ich mich dagegen wehrte, hatte ich Tränen in den Augen. Zwei alte Männer waren gegangen. Sie waren Autoritäten, auch wenn ich mein politisches Selbstverständnis stets in Abgrenzung zu ihnen definiert hatte.
Wer soll uns jetzt die Welt erklären?, titelte die ZEIT in jener Woche. Meine Großmutter teilte diese Sorge: Wer mir denn nun sagen würde, was ich zu tun hätte, wollte sie von mir wissen. "Oma, du weißt doch, was Kant gesagt hat", antwortete ich: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Klassikerzitate waren in der Vergangenheit eigentlich immer gut angekommen. Doch noch mehr als in früheren Situationen, in denen ich mich in Gemeinplätze geflüchtet hatte, fühlte sich das diesmal nicht nur schal, sondern schlicht falsch an. Woher soll man in diesen Zeiten noch den Mut nehmen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen?
Einfache Antworten gibt es nicht mehr, das erlebte ich auch in den Diskussionen der Politikredaktion. Wider Erwarten glich sie weder einem homogen sozialdemokratischen Thinktank noch einer Schar von Giovanni-di-Lorenzo-Jüngern. Im Gegenteil: Es wurde hart gestritten, über die richtige Strategie gegen den IS, die Gefahren von rechts, die Grenzen der Willkommenskultur. Ich konnte eine Form der direkten und offenen Auseinandersetzung beobachten, die ich in den Marburger Polit-Plenen und Theoriezirkeln oft vermisst hatte.