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Türkei: Was folgt nach dem Verfassungsreferendum?

Selbst wenn Erdogan mit seinen Reformplänen scheitert, die türkische Demokratie ist noch lange nicht gerettet. Für Erdogan gibt es keine Alternative zum Präsidialsystem. Er wird das Ziel mit allen Mitteln umsetzen wollen. Es gibt nur sehr wenige, die sich ihm dabei in den Weg stellen wollen.

Erdogan widersetzt sich Korruption, Erdogan rettet einen Hundewelpen, Erdogan geht aufrecht für seine Überzeugungen ins Gefängnis. Nein, das sind keine Anekdoten aus der heutigen Türkei, sondern Szenen aus der Erdogan-Biografie „Reis“ (Oberhaupt), die am dritten März in den türkischen Kinos angelaufen ist. Bemerkenswert an dem kruden Mix aus Erdogan-Beweihräucherung und ZDF-Sonntagsfilm ist aber nicht die rührselige Handlung, sondern vielmehr, dass ihn hier in Istanbul kaum jemand sehen wollte. Schon nach drei Wochen nach dem Start strichen ihn die Kinos aus dem Programm. 

So manch ein Oppositioneller interpretierte das geringe Interesse als Indikator für die politische Zukunft des Landes, das sich beim Verfassungsreferendum an diesem Sonntag niederschlagen könnte. Ein Hoffnungsschimmer? In der Türkei zirkulierende Umfragen schienen das zu bestätigen: Noch Mitte März sahen sie das Ja-Lager bei nur rund 47 bis 48 Prozent der Stimmen. 

Heute jedoch, eine Woche vor dem Referendum, kann niemand genau sagen, wie es ausgehen wird. Ein Grund dafür ist die ungewöhnlich hohe Zahl an unentschlossenen Wählerinnen und Wählern vor allem im Lager der nationalistischen MHP und in Erdogans eigener AKP. In der Türkei, in der die Mehrheit traditionell rechts-konservativ wählt, muss Erdogan dieses Mal einiges aufbieten, um gerade den rechten Rand begeistern zu können.

Doch würde sich mit einem „Nein“ zur Verfassungsreform überhaupt viel an der Systemumwälzung Erdogans ändern? 

Auch wenn das Referendum nicht durchkommt, kann wohl kaum mit Besserung der Lage im demokratischen Sinne gerechnet werden. Für den „Reis“ gibt es keinen Plan B. Möglicherweise verschwindet das Vorhaben Präsidialsystem vorübergehend in der Schublade. Aber es wird nicht lange dauern bis es wieder hervorgeholt wird. Nur eine Verfassungsreform ermöglicht es ihm. Nur ein Präsidialsystem wird ihm ermöglichen, bis 2029 und möglicherweise darüber hinaus an der Macht zu bleiben – und sich so vor Strafverfolgung zu schützen. Diesem Ziel wird Erdogan weiterhin alle innen- und außenpolitischen Ziele unterordnen.

Dazu kommt, dass Niederlagen einzugestehen seine Sache nicht ist, wie der Nachgang des herben Stimmenverlusts der AKP in den Parlamentswahlen vom Sommer 2015 gezeigt hat. Nur wenige Monate dauerte es, bis der „Reis“ und seine Partei wieder fest im Sattel saßen – um den Preis einer tief gespaltenen Gesellschaft, eines Krieges mit der PKK und massiver außenpolitischer Verwerfungen.

Ein verlorenes Referendum wird Erdogan zwar innerparteilich schwächen, denn Personen, die in der AKP mit seinem Kurs nicht einverstanden sind, gibt es genug. Aber gegen einen Machtverlust sichern ihn fehlende Alternativen. In der AKP sind spätestens seit dem gescheiterten Putsch auch die größten Kritiker eingeschüchtert. Sie wissen, dass Dissens mit dem „Reis“ sie sehr schnell ins Visier der Staatsanwaltschaft bringen kann. Die Opposition, die ohnehin ein desaströses Bild abgibt, stellt für viele kaum eine Alternative dar. Da in der Türkei die Parteizugehörigkeit für die Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler eine Identitätsfrage ist, gibt es ohnehin nur wenige Wechselwähler.

Ein „Nein“ zur Verfassungsreform würde also wohl maximal ein kurzes Aufatmen in den Oppositionsreihen bedeuten. Viele hoffen auf die Gründung einer neuen Partei im rechte Spektrum, die Erdogan mittelfristig Stimmen abgraben könnte. Ob sich eine solche unter den aktuellen repressiven Bedingungen erfolgreich aufstellen kann, ist aber unklar. Wahrscheinlich kommt es zu vorgezogenen Neuwahlen. Die AKP könnte dann die vom Staat kriminalisierte links-kurdische HDP und die fast bedeutungslose MHP unter die Zehnprozenthürde drängen und die Zweidrittelmehrheit erreichen, die sie braucht, um die Verfassung allein zu ändern.

Keine Frage, das System Erdogan ist angeschlagen und das schon seit 2013. Aber niemand kann sagen, wie lange es noch dauern wird, bevor dieses System endgültig zusammenbricht. Erdogans politische Projekte im In- und Ausland sind fast alle gescheitert. Das Versprechen, seinem Volk mehr Sicherheit und Wohlstand zu bringen, wird immer schwieriger einzuhalten sein, da sein Kurs eine nationale und internationale Krise nach der anderen produziert. Von der schwierigen Sicherheitslage, über die kriselnde Wirtschaft bis zur außenpolitischen Isolierung gibt es wenig Hoffnung auf Besserung. Zwar mag sich der Wechselkurs nach einem Referendum leicht erholen, aber auch mit einer langfristigen Verbesserung der Wirtschaftsmisere ist nicht zu rechnen.

Die Wirtschaft steckt in der Misere. Doch je mehr Erdogan innen- und wirtschftspolitisch in die Bredouille kommt, desto mehr ist er darauf angewiesen externe Feinde zu präsentieren und alte Verbündete zu verprellen. Dies schon allein, weil die Möglichkeiten der Türkei außenpolitische Partner wie Deutschland entscheidend zu beeinflussen massiv geschwunden sind. Der Flüchtlingspakt etwa hat jetzt, da die Balkanroute geschlossen ist, sein Druckpotenzial verloren. In Syrien bekommt die türkische Armee von einer bizarren Allianz aus Russland, den USA, PKK-Milizen und dem syrischen Regime sehr enge Grenzen aufgezeigt. Der Versuch neue Druckmittel aus der hohlen Hand zu zaubern, wie etwa durch die Inhaftierung Deniz Yücels, schafft immer neue außenpolitische Verwerfungen. Dies hinterlässt Erdogan teilweise geschwächt, führt aber dazu, dass Erdogan umso stärker sein ideologisches Narrativ einsetzt, ein Amalgam aus Nationalismus und Islamismus. In diesem Narrativ haben wichtige Verbündete wie Deutschland die Rolle des Buhmanns.

Auf Dauer kann das nicht gut gehen. Aber Erdogan ist bereit, den Preis dafür zu zahlen – eine Alternative gibt es für ihn nicht. Seine Macht wird er damit erst einmal erhalten können. Wir dürfen also nicht davon ausgehen, dass es nach dem Referendum politisch stiller wird. Denn auch wenn nicht jeder Erdogan im Kino sehen will – die Auswahl an alternativen Filmen stimmt nicht gerade optimistisch.

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