Wenn Oksana Lyniv die linke Hand zum Auftakt hebt, sind alle da. Sofort. Als hätte sie einen Schalter umgelegt. Mit ihrem Blick, ja mit dem ganzen Körper, scheint es, fängt sie die Sinne ihrer Gegenüber ein und bündelt sie zu purer Energie. Ein Einsatz wie der, den sie bei der Probe zu Ruggero Leoncavallos Oper Pagliacci dem Grazer Opernchor gibt, ist maximal konzentriertes Jetzt: ein Vakuum, unendlich kurz und ewig lang. "In meinem Tempo!" ist eine Ansage, die Lyniv den Chorsängern mehrfach entgegenruft. Dabei evoziert sie eine unglaubliche Kraft, auch wenn sie nur mit einem Bleistift dirigiert.
"Der Dirigent ist das Herz des musikalischen Geschehens", sagt Lyniv zwei Stunden später im Gespräch und meint das ganz konkret: "Ich gebe einen Impuls ins Orchester, das damit weitere Impulse auslöst, die zu mir zurückkommen. Die wiederum verarbeite ich, verändere oder verstärke sie und schicke sie wieder zurück." Wie ein Herzmuskel, der das Blut durch die Adern der Musik pumpt. So simpel. So organisch.
Als Oksana Lyniv das erklärt - den Sinn ihres Berufes, mal eben so -, sitzt sie an ihrem Schreibtisch im Grazer , aufrecht, im weißen Leinenkostüm. Die kurzen dunklen Haare hat sie mit einer Spange im Nacken zusammengeknipst, ein paar Strähnen suchen sich rechts und links dennoch eigene Wege. Fast sind sie das Einzige an ihr, was nicht gänzlich kontrolliert wirkt.
Die Ukrainerin weiß, was sie will, und sie weiß auch, wie sie es bekommt. Das ist für den Job vorne am Pult unabdingbar. Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, die eigenen Vorstellungen so kommunizieren zu können, dass alle sie sofort verstehen. Lyniv beherrscht diese Kunst. Zwar kann man ihre bestimmte und zupackende Art, zu taktieren, durchaus streng finden, doch gleichzeitig verströmt die Dirigentin einen Enthusiasmus, der fast schon wieder etwas Spielerisches hat. Dirigieren ist bei Lyniv eine natürliche Mischung aus beidem und nichts Autoritäres - zumindest nicht ausschließlich. "Man könnte sagen, dass es zwei Arten von Dirigenten gibt", sagt sie, "diejenigen, die das Theater lieben, und die, die mit ihm nicht umgehen können. Alles am Theater hat das Potenzial, die Musik zu beeinflussen oder zu stören - die Entfernung, die Bewegung, das Gerumpel auf der Bühne. Für mich aber ist genau das Zusammenspiel der Künste, diese Synthese, ein unglaublicher Genuss." Jetzt strahlt sie: "Ich habe das Gefühl, das Drama und die einzelnen Geschichten unten im Graben hautnah mitzuerleben."
Schon als 14-Jährige kam Lyniv in Lwiw (Lemberg), etwa 100 Kilometer von ihrer Geburtsstadt Brody entfernt, auf eine Spezialschule mit dem Schwerpunkt auf musikalischer Ausbildung - was in der nichts Außergewöhnliches ist. Sie lernte Flöte, Klavier, Gesang und Dirigieren, Letzteres war Pflichtfach in der Abschlussprüfung. Dass ihr das Dirigieren besonders gut lag, hatte sie selbst gar nicht so wahrgenommen: "Nach der Prüfung kamen Leute zu mir und fragten, ob ich mir nicht vorstellen könnte, das Fach zu studieren." Als öffnete sich in ihrem Kopf eine Schleuse, begann in diesem Moment für Lyniv eine steile Karriere. Und die wiederum geht auch auf einen gewissen Eigensinn zurück.
Lyniv studierte an der Musikakademie Mykola Lysenko in , ein massiger Jugendstil-Bau mit hellgelber Fassade. Ihre Professoren fuhren vom Lehrplan her ein klassisches Programm, "das allgemein Bekannte", was die junge Musikerin rasch langweilte. Sie saß lieber allein in der Bibliothek, "mit alten Aufnahmen und dem Klavierauszug auf dem Tisch", sagt sie. "Ich habe schon immer lieber selbst entdeckt und gelernt, statt das durchzukauen, was als Schema auf dem Programm steht." Die Professoren zeigten sich offenbar genervt davon, "dass ich bei den Vorlesungen so gut wie nie da war und bei den Prüfungen trotzdem alles konnte", sagt Lyniv und lacht. Schon damals hatte es ihr vor allem die Musik von Richard Strauss und Richard Wagner angetan. Musik, "die man in der Ukraine nirgends live hören konnte. Es gab nur Legenden, beispielsweise über eine Tannhäuser- Aufführung in Lwiw vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich wollte wissen: Was ist das für eine Musik, die man hier nicht spielt?" Auch deshalb, sagt sie, wollte sie zum weiteren Studium unbedingt nach Deutschland gehen - und landete in Dresden.
Ein anderer Grund: Eine Karriere in der Ukraine, erst recht als Frau am Pult, erschien ihr so gut wie unmöglich. Hat eine es im Ausland geschafft, so wie sie, stehen ihr die Häuser dann aber doch offen. Welche Ironie.
Dabei war Lyniv fast immer außergewöhnlich gut. Schon in Lwiw machte der Chefdirigent der Oper sie zu seiner Assistentin, wenig später gewann sie beim Gustav-Mahler-Wettbewerb in Bamberg den dritten Preis, wurde Jonathan Notts Assistentin bei den Bamberger Symphonikern und wechselte schließlich in der gleichen Position zu Kirill Petrenko an die Bayerische Staatsoper in München. Petrenko verstand sofort, dass die Frau, die er da engagiert hatte, keine Anfängerin war. Er setzte sich dafür ein, dass sie selbst dirigieren konnte, zwar keine eigenen Produktionen, aber ein paar Wiederaufnahmen, darunter auch Strauss’ Ariadne auf Naxos. Seit einem Jahr ist Lyniv nun Chefdirigentin am Grazer Opernhaus, dem zweitgrößten Österreichs. Im November steht sie als erste Frau überhaupt am gleichen Pult wie Richard Strauss selbst bei der österreichischen Erstaufführung der Salome. Es ist Lynivs erste eigene Strauss-Produktion.
Trotz internationaler Karriere: Der Eigensinn ist Oksana Lyniv geblieben. Seit sie ihre Heimat verlassen hat, setzt sie sich dafür ein, dass verschollene ukrainische Musik vor allem des 20. Jahrhunderts den Weg in die Programme und Spielpläne der Opern- und Konzerthäuser findet. Von dieser Musik gibt es eine ganze Menge. Begeistert berichtet Lyniv von Sälen im ukrainischen Staatsarchiv voller handgeschriebener Partituren und Orchesterstimmen. Die Stücke seien entweder unter Stalin verboten gewesen oder nur wenige Male aufgeführt worden. Lyniv nennt Komponisten wie Mykola Kolessa, Vitalij Hubarenko, Boris Lyatoshynsky oder Jewhen Stankowytsch, deren Musik außerhalb der Ukraine kaum jemand kennt. Eine Handvoll dieser Werke hat sie sogar auf eigene Kosten edieren lassen. Sie wollte nicht warten, bis die zuständigen Stellen in der Ukraine tätig würden. "Ich lebe jetzt!", sagt sie. "Und was ich jetzt tun kann, mache ich auch jetzt."
Die Energie, vor der die zierliche, drahtige Frau strotzt, ist eine Gabe, die überrumpeln wie mitreißen kann. Auf dem Weg durch die labyrinthischen Gänge der Grazer Oper zur Kantine fällt man rasch eineinhalb Schritte hinter die stramm vorwegmarschierende Dirigentin zurück, die, ohne aus der Puste zu kommen, immer weiterspricht, beim Treppensteigen, beim Kaffeekaufen, beim Sich-durch-entgegenkommende-Menschengruppen-Schlängeln. Sie ist hier offenbar angekommen, fühlt sich wohl zu Beginn ihrer zweiten Saison in Graz. Bei Cappuccino und einem Stück traditionellem österreichischem "Scheiterhaufen" – Eier und Äpfel mit Zucker zwischen Toastscheiben – erzählt sie von ihrer Wohnung, die nur sieben Minuten Fußweg von der Oper entfernt sei, von der Zeit, die sie durch die kurzen Wege für die Arbeit gewonnen habe. Und von der Atmosphäre, die zwischen ihr und dem Orchester sofort gestimmt habe. Lynivs Konterfei prangte noch kurz vor Saisonbeginn in der ganzen Stadt auf riesengroßen Plakaten. Trotzdem schwingt leise mit: Graz ist nicht für die Ewigkeit. Graz ist ein Sprungbrett.
"Ich habe schon ziemliches Heimweh", sagt Oksana Lyniv, "aber das ist normal – jeder Künstler zieht in die Welt. Er bekommt dafür etwas anderes, das auch sehr schön ist." Zurück in die Ukraine zu gehen ist für sie keine Option. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, vor zwei Jahren in Lwiw ein Festival zu gründen – und fährt nun mindestens einmal im Jahr dorthin: "Ich lade mein Heimweh sozusagen vor Ort für den Rest des Jahres wieder auf", sagt Lyniv. Das LvivMozArt ist nach dem Mozart-Sohn Franz Xaver benannt, der 30 Jahre lang in Lwiw lebte. Das Festival gilt, nur zwei Jahre nachdem es ins Leben gerufen wurde, als größtes für klassische Musik im ganzen Land.
Auch hier steht Oksana Lyniv selbst am Pult – unter anderem vor dem ersten Jugendsinfonieorchester der Ukraine, das sie ebenfalls 2016 gründete. Die 70 Musiker waren im August dieses Jahres bei den Young Euro Classics in Berlin zu Gast, spielten Tschaikowskys Slawischen Marsch und Beethovens Siebte Sinfonie, dazu zwei deutsche Erstaufführungen von Werken ukrainischer Komponisten. Wieder strotzte Lyniv vor kontrollierter Energie, dirigierte mit fließender, hoch konzentrierter Gestik. Manche Gesten setzt sie akribisch, mit spitzen Fingern, eine halbe Armlänge vor der Stirn an, als wollte sie ihren durchdringenden Blick ins Orchester gleichsam verlängern. In selteneren Momenten sind ihre Impulse hingegen ungeahnt groß, zeichnen ausladende, umarmende Bögen, für die sie auf dem Pult einen Schritt zurücktritt.
All das geschieht mit der Körperspannung einer Tänzerin. Man glaubt, die zwischen ihr und den Musikern flottierende Energie förmlich sehen zu können – in den Augen, die groß und hellhörig auf die Dirigentin gerichtet sind, in der Art, wie das Miteinander wächst. In diesen anderthalb Stunden sind Musiker und Publikum ganz da, mit allen Sinnen und allen Gedanken, als wäre der Schalter des Lebens kurz umgelegt. Oksana Lyniv in ihrem Element. Und in ihrem Tempo.