Sophie Pacini war 13 Jahre alt, als sie bei einem Meisterkurs auf einem der Flügel ein Notenblatt entdeckte, dessen Inhalt sie bis heute nicht losgelassen hat. Weder das Jahr noch der Komponist waren darauf vermerkt, niemand, keiner der Teilnehmer und keiner der Lehrer, kannte das Stück. Sie spielte es kurzerhand vom Blatt. Die Tonsprache, das erzählt Pacini 13 Jahre später, habe sie an Felix Mendelssohn erinnert. Harmonisch jedoch - für Mendelssohn viel zu gewagt! Die Bögen, die Melodieführung, der ganze Duktus - einfach zu "kokett". Es war Pacinis erste Begegnung mit Mendelssohns großer Schwester,der Komponistin Fanny Hensel. Und die Initiation für "In Between", ihre aktuelle CD. Pacini spielt darauf neben Werken von Robert Schumann und Felix Mendelssohn auch Kompositionen von Clara Schumann und Fanny Hensel. Kurz nach seiner Veröffentlichung im Frühjahr stand das Album bereits auf Platz zwei der Charts, zwischenzeitlich war es Bestseller auf verschiedenen Online-Plattformen.
DIE ZEIT: Frau Pacini, wie lebt es sich mit dem Erfolg?
Sophie Pacini: Ziemlich gut! Ich befinde mich ja ständig in der Entwicklung, im Streben. Es gibt so viele Dinge, die ich erreichen will. Ich glaube, wenn man sich das als Leitfaden nimmt, bleibt man auf dem Teppich, und das möchte ich gerne beibehalten. Sobald man innerlich ein selbstzufriedenes Lächeln aufsetzt, ist man mit seiner Kunst, glaube ich, am Ende.
ZEIT: Haben Sie damit gerechnet, dass sich In Between so gut verkauft, war das doppelte Schumann-Mendelssohn-Programm, die Mischung zwischen Bewährtem und Exotischem, so kalkuliert?
Pacini: Natürlich habe ich gehofft, dass sich das Album gut verkauft. Aber vorhersehen lässt sich so etwas nicht. Gerade bei Schumann behaupten Plattenfirmen gern, seine Musik verkaufe sich nicht. Schumann sei sperrig, schwierig, speziell - und was man da alles zu hören kriegt. Bei mir löst das immer Trotz aus: Ich will dann erst recht zeigen, dass es geht. Und es geht!
ZEIT: Sie machen sich dann zur Anwältin des Komponisten?
Pacini: Ich begreife mich als Vermittlerin, ich will erreichen, dass die Leute aus dem Konzertsaal kommen oder die Kopfhörer abnehmen und sagen: Was ist das für ein Wahnsinnstyp, dieser Schumann - und darüber vielleicht vergessen, dass ich es war, die da gespielt hat.
ZEIT: Das wird aber umso schwieriger, je erfolgreicher Sie werden.
Pacini: Und das ist ein Problem. Natürlich ist es eine schöne Bestätigung, wenn man als Person gefeiert wird, aber für mein Gefühl nimmt dieser Kult überhand. Ich bin doch nur hier, an dieser Stelle, weil Leute wie Beethoven, Schumann, Chopin, Brahms oder Skrjabin etwas geleistet haben, das ich mir zu eigen machen kann. Von mir allein wäre das alles ja nie ausgegangen. Der Erfolg der CD hat mich sehr darin bestärkt, weiterhin solche, sagen wir, dialogisch konzipierten Alben zu machen. Aktuell überlege ich, Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart und Camille Saint-Saëns zu kombinieren. Oder ich gehe in Richtung Frédéric Chopin und Alexander Skrjabin.
ZEIT: Wie bleibt man sich treu und behauptet sich trotzdem auf dem immer enger werdenden Plattenmarkt?
Pacini: Indem ich meinen Namen und das Vertrauen, das mir von vielen Seiten entgegengebracht wird, für das nutze, was mir wirklich wichtig ist. Ich versuche so häufig, wie ich kann, Konzerte zu moderieren oder Programmhefttexte und CD-Booklets selbst zu schreiben. Ich bin auch sehr selbstkritisch, was mein Auftritt in den sozialen Medien betrifft: Rede ich zwar davon, nichts als den Komponisten in den Fokus zu rücken, kleistere gleichzeitig aber meine Timeline mit Fotos vom neuen Konzertkleid zu? Ich denke viel darüber nach, wie ich es schaffe, mich nirgends von der Kunst zu lösen.
Wenn sie redet, versprüht Sophie Pacini eine überrumpelnde Energie - mit exzentrischen Gesten, großem Lachen, fliegendem Haar, schaukelnden Ohrringen. Alles an ihr scheint sich zu bewegen, als wehte um sie herum ein ständiger Wind. Sie spricht schnell und mit kräftiger, fester Stimme, behält ihr Gegenüber aber still und konzentriert im Blick, wenn sie zuhört. Sie formuliert geradeheraus und eloquent, und trotzdem wirkt es, als falle ihr das Gesagte im Moment erst ein. Diese Mischung aus Temperament und Unbeirrbarkeit macht sie auf eine eigensinnige Art erwachsener als die meisten Menschen ihres Alters.
ZEIT: Robert und Clara, Felix und Fanny: Geht es in diesem Programm in Wahrheit um die Frauen, und die Männer sind nur das Luftkissen, das sie trägt?
Pacini: Diese Frauen haben es nicht nötig, durch ihre Männer gepusht zu werden. Sie stehen für sich. Es sind zwar nur zwei Stücke von Clara und Fanny, aber meine gesamte Interpretation basiert auf dem Einfluss dieser Frauen. Durch sie kann man in die Seelen der berühmten Männer schauen. Darum ging es mir.
ZEIT: Die musikalischen Parallelen sind dabei mitunter so stark, dass man beim Hören fast vergisst, welches Werk von welchem Komponisten ist.
Pacini: Und genau das ist der Sinn: dass die Stücke am Ende wie verschmolzen sind. Im gesamten Schaffen von Clara und Robert Schumann weiß man auch nie: Wer spielt jetzt wo eine Rolle? Die beiden haben eine symbiotische Beziehung geführt, gemeinsam Tagebuch geschrieben. Ohne Clara wäre vieles von Roberts Musik nicht entstanden.
ZEIT: Und bei Felix Mendelssohn und Fanny Hensel, seiner älteren Schwester?
Pacini: Ich habe mich lange nicht getraut, Mendelssohn öffentlich zu spielen, weil mir das emotionale Verständnis für seine Musik fehlte. Für die CD habe ich mich zwei Monate in Klausur begeben und davon allein drei Wochen nur die Variations sérieuses geübt. Fanny Hensel hat mir geholfen, einen Zugang zu ihm zu finden. Sie war kompositorisch mindestens so genial wie er. Sie war es, die Felix immerzu angestachelt hat, modernere Wege zu gehen, was er sich, wenn überhaupt, nur durch sie getraut hat. Sie war seine Mutquelle – und letztlich seine Schule.
ZEIT: Was war für Sie denn so schwierig an Mendelssohns Musik?
Pacini: Er formuliert sehr klare Gedanken, die keinen Weg zur Spekulation offenlassen. Als Interpretin musst du eine klare Entscheidung treffen, wie du den Charakter veranschlagst, du musst ganz genau wissen, wie diese Musik schwingen soll. Das erfordert Mut. Bei Robert Schumann trifft sich diese Entscheidung von allein, er gibt eher Denkanstöße: Man geht den Weg mit, und es erschließt sich einfach.
Pacinis Spiel ist raumgreifend, wasserfallartig, furchtlos – und dabei in seiner Deutlichkeit manchmal sogar forsch: Die Mittelstimmen, die sie herausarbeitet, sind klar und kontrastreich. Sie hat keine Angst, auch mal einen härteren Anschlag zu riskieren. Pacini gräbt tief in den klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten ihres Instruments, arbeitet sehr bewusst mit dem Pedal, mit feinen Artikulations- und Phrasierungsunterschieden. Die Hammerköpfe hat sie für die Aufnahme der Mendelssohn-Stücke extra aufgebügelt – für einen luzideren Klang. Erstaunlich, wie wenig verkopft das alles klingt, wie dunkel, ja abgründig Mendelssohn in seinen "Variations sérieuses" erscheint, wie doppelbödig seine "Lieder ohne Worte" schwingen können. Ein einzelner Ton, ein sekundenschneller Harmoniewechsel vermag hier jede unbeschwerte Seligkeit aschgrau zu färben. Pacini hat ihre Mendelssohn-Krise überstanden.
ZEIT: Ihre Interpretationen sind sehr eigen, in der Agogik, der Pedalisierung, der Farbgebung. Wenden Sie sich damit bewusst gegen eine Schule?
Pacini: Schon. Dieses Album und auch die vorherigen sind ein Aufräumen mit meiner Studienzeit. Ich habe viel Wertvolles aus dieser Zeit mitgenommen, aber alles in allem hatte ich doch eine eher altbackene Schule. Da dominierte sehr stark die Doktrin, Dinge so zu spielen, wie man sie immer schon gespielt hat. Dass Schumann und Mendelssohn sich wechselseitig beeinflusst haben, so etwas kam nicht vor. Es gibt keine abstrakte Schumann-Linie, Beethoven-Linie oder Bach-Linie. Alles hängt miteinander zusammen. Ich gehe daher ganz bewusst einen anderen Weg.
ZEIT: Booklet, Cover, Werkzusammenstellung von In Between kommen allein von Ihnen. Wie haben Sie es geschafft, sich in all diesen Punkten durchzusetzen?
Pacini: Ich hatte eine genaue Vorstellung von dem, was ich will, und ich konnte gut argumentieren. Gerade als junger Mensch hat man oft das Image, man sei noch auf der Suche und sozusagen formbares Material. Es sind jetzt 20 Jahre, die ich Klavier spiele, das heißt, ich beschäftige mich seit 15 Jahren damit, mit meinem Instrument etwas auszudrücken. Ich weiß ganz genau, wie ich wirken will.
ZEIT: Und wann wissen Sie, wann ein Stück reif ist fürs Plattenstudio oder für die Bühne?
Pacini: Ich bin Perfektionistin. Ich will die Musik zu 99 Prozent durchdringen. Ich beiße mich hinein in die Werke und zerlege sie, analysiere sie, bis ich das Gefühl habe, sie haben sich ganz in mir verteilt: Sie sind mit mir eins geworden.
ZEIT: Nicht leicht auf dem Klavier.
Pacini: Am Ende schlägt ein Hammer gegen eine Saite – das ist das Nüchternste, was es gibt. Ich habe jahrelang Cello gespielt, ein Instrument, bei dem man den Ton mit dem Finger auf der Saite formt. Dieser Ton geht in dich über, du schwingst als Ganzes. Mit der richtigen Bogentechnik kann man Farben erzeugen und Spannungsbögen, die am Klavier extrem schwer nachzuzeichnen sind. Sitze ich am Klavier, stelle ich mir immer vor, ich spanne, was ich spiele, auf einen sehr langen Bogenstrich.
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