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Höher, schlimmer, weiter

Wie ein Dschungel aus dichten Sträuchern und Pflanzen, in dem auch ein erfahrener Safariguide den Überblick verliert, schlingt sich das Klassifizierungssystem um den Para-Sport. Unterschiedliche Regelwerke der jeweils zuständigen Sportfachverbände, Richtlinien, die sich oft ändern, Formulare, Punktetabellen und internationale Standards - wer sich einen Weg durch das Dickicht schlagen möchte, braucht eine große Machete. Selbst den Athletinnen und Athleten fällt die Orientierung mitunter schwer. „Ich möchte mich gar nicht damit beschäftigen. Dafür sind die Behinderungen viel zu unterschiedlich", sagt die deutsche Para-Schwimmerin Denise Grahl, die aus gesundheitlichen Gründen ihre Teilnahme an den Paralympics in Tokio absagen musste. Dabei ist der Gedanke hinter den vielen Startklassen ganz einfach: Chancengleichheit schaffen.

Dass Theorie und Praxis jedoch häufig weit auseinander liegen, zeigte sich am Beispiel des Weltverbands im Rollstuhlbasketball, der im vergangenen Jahr auf Druck des Internationalen Paralympischen Komitees seine Richtlinien zur Klassifikation überarbeiten musste und damit einen Eklat auslöste. Von jetzt auf gleich galt unter anderem die langjährige deutsche Nationalspielerin Barbara Groß mit ihrer Minimalbehinderung als nicht mehr teilnahmeberechtigt. „Ich war für mehrere Tage in einem Schockzustand", sagte sie der Deutschen Welle. Erst nach einer medizinischen Eingebung erhielt die Silbermedaillengewinnerin von den Spielen in Rio, die im Alltag nicht auf einen Rollstuhl angewiesen ist, ihre internationale Starterlaubnis zurück.

Um eingeteilt zu werden und somit überhaupt erst an Wettkämpfen teilnehmen zu dürfen, hat jeder paralympische Sportfachverband sein eigenes Klassifizierungssystem. Unterschieden werden dabei körperliche, geistige und Seh-Behinderungen. Bei der Zuteilung in die jeweilige Startklasse, eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, wird bei Sportlerinnen und Sportlern mit körperlicher oder geistiger Behinderung neben medizinischen Untersuchungen und psychologischen Tests auch überprüft, inwieweit Bewegungseinschränkungen vorliegen. Die Klassifizierung bei einer Sehbeeinträchtigung erfolgt allein auf Grundlage der medizinischen Befunde und gilt übergreifend für alle Sportarten. Es gilt: Je höher die Klassennummer, desto geringer wurde die Schwere der Behinderung beurteilt.

Für die Untersuchung hat jeder Weltverband Beauftragte

Beim Para-Schwimmen funktioniert die Einteilung beispielsweise wie folgt: Es gibt S-Klassen für die Lagen Freistil, Rücken und Schmetterling, SB-Klassen für Brustschwimmen und SM-Klassen für Lagenschwimmen. Nach einem Punktesystem werden die Teilnehmenden in die Klassen 1-14 eingeteilt. Ein nichtbehinderter Sportler würde demnach 300 Punkte erhalten. Wer an einem internationalen Para-Wettkampf teilnehmen möchte, darf nicht mehr als 285 Punkte vorweisen. Aufgeteilt sind die Punkte auf die verschiedenen Körperregionen sowie Einschränkungen bei Start und Wende. Je nach Stil werden dabei Arme oder Beine unterschiedlich gewichtet. Durch die Vielzahl an Klassen kommt es im Schwimmen so zu einer Vielzahl an Starts in ein und derselben Disziplin. In Tokio beispielsweise werden die 100 Meter Freistil der Frauen von sechs verschiedenen Gruppen geschwommen. Der 100-Meter-Sprint der Männer in der Para-Leichtathletik findet inklusive der vier Rennrollstuhlrennen sogar ganze 16 Mal statt.

Für die Untersuchung der Para-Sportlerinnen und -Sportler vor einem internationalen Sportevent, hat jeder Weltverband spezielle Beauftragte, meist medizinisch und psychologisch geschultes Fachpersonal oder entsprechend ausgebildete Trainerinnen und Trainer oder ehemalige Sportlerinnen und Sportler, die die Bewertung vornehmen. Da es seit der Corona-Pandemie zu vielen Wettkampfabsagen kam, stehen in Tokio noch Klassifizierungen aus - das deutsche Team ist davon nicht betroffen.

Grundsätzlich gibt es Sportlerinnen und Sportler, die regelmäßig neu klassifiziert werden, um zu überprüfen, ob sich der Grad ihrer Behinderung verändert hat. Die kleinwüchsige Schwimmerin Denise Grahl muss sich seit diesem Sommer erstmal keiner weiteren Untersuchung unterziehen - und ist darüber recht froh. „Zuerst musste ich da Fragen beantworten, dann wurde ich auf einer Pritsche durchbewegt. Mir ist das schon unangenehm, ich habe schließlich nicht mehr als einen Badeanzug an", erzählt Grahl von ihrer jüngsten Untersuchung: „Zum Schluss kam der Wassertest, wo ich vorschwimmen muss. Ich war total aufgeregt, weil von der Einteilung in die Startklasse meine sportliche Karriere abhängt."

Angeblich stark sehbehinderter Athlet fährt Auto

Für den brasilianischen Paralympics-Star Andre Brasil war die internationale Laufbahn nach der letzten Klassifizierung beendet. Der siebenfache Goldmedaillengewinner im Para-Schwimmen kam nach einer Überarbeitung der Richtlinien auf 286 Punkte - einen Punkt zu viel. Brasil zog erfolglos vor Gericht und warf dem IPC unter anderem vor, dass die Klassifizierungsregeln in der Entstehung intransparent, undemokratisch und diskriminierend seien.

André Brasil ist einer der erfolgreichsten Paralympioniken. Foto: dpa

Immer wieder hagelt es Kritik - von der Einteilung in die Startklasse hängt die Erfolgsaussicht ab. „Zu willkürlich, zu manipulierbar", bezeichnete die britische Para-Leichtathletin Bethany Woodward die Klassifizierung in einem Gespräch mit der BBC. Helmut Hoffmann, Sportarzt beim Deutschen Behindertensportverband (DBS), forderte in einem Beitrag des Deutschlandfunks eine übergeordnete Institution, analog zur Anti-Doping-Agentur, die eigenständig die Klassifizierungen vornimmt und unabhängig agiert - denn immer wieder kommt es auch zu Betrugsversuchen.

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„Da wo es um Leistung und um Geld geht, wird immer geschummelt", sagt Rinaldo van Rheenen. Laut dem Kampfrichterwart für Para-Leichtathletik wurde bei Untersuchungen schon behauptet, manche Bewegungen nicht ausführen zu können - nur um in eine niedrigere Klasse zu rutschen. Der ehemalige Leitende Sportarzt vom DBS, Jürgen Kosel, berichtete vor Jahren der „Zeit", dass ein angeblich stark sehbehinderter Athlet nach dem Wettkampf mit dem Auto nach Hause fuhr. Vorbeugend müssen in der Para-Leichtathletik sehbehinderte Sportlerinnen und Sportler zusätzlich zur Maske, die sie tragen, aus einem solchen Grund ihre Augen abkleben. Doch „absolute Fairness wird es nie geben", sagt Sara Grädtke, Koordinatorin für Klassifizierung bei der Para-Leichtathletik, zu viele Faktoren seien individuell zu verschieden.

Für alle Beteiligten ist es eine Gratwanderung zwischen gerechten Wettkämpfen, maximaler Teilhabe und dem Verhindern von Betrug. Die Schlingen der notwendigen Vorschriften winden sich eng um den eigentlich offenen Sport.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.
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