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Flüchtlinge in Stuttgart: Leben hinter Absperrgittern

Seit zwei Monaten sind Hassan, Sahel und Abdul (v. li.) in Deutschland - das Lachen vergeht ihnen selbst vor der Turnhalle nicht. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Ihre ersten zwei Monate in Deutschland haben drei junge Syrer in Karlsruhe verbracht. Seit zwei Wochen leben sie nun in einer Turnhalle in Stuttgart-Obertürkheim. Unsere Autoren begleiten die drei in einem Langzeitprojekt bei ihren ersten Schritten im Land.
Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel
Stuttgart - Es ist erstaunlich ruhig in der Turnhalle. Von irgendwo hinter den weißen Stellwänden dudelt leise arabische Musik, aus einer Ecke der Halle sind gedämpfte Kinderstimmen zu hören. Über den Tischen am Rand der Halle hängt ein Basketballkorb. Sahel zieht eines der Absperrgitter zur Seite und lacht: „Unser Zimmer", sagt der junge Syrer auf Deutsch. In dem abgetrennten Bereich hinter dem Gitter stehen drei Stockbetten mit bunten Bettdecken, auf manchen liegen ein paar Klamotten und Schreibhefte. Daneben steht ein grauer Spind. „Man spürt immer, dass hier noch hundert andere Menschen wohnen", sagt Sahel. „Aber man gewöhnt sich daran."
Flüchtlinge im Südwesten: Sieben Tage Deutschland
Vor acht Wochen ist der junge Mann am Stuttgarter Hauptbahnhof aus dem Zug gestiegen - zusammen mit seinem Bruder Abdul und seinem Cousin Hassan (zum Schutz werden nur die Vornamen verwendet, die Redaktion). Die ersten Wochen verbrachten die drei Syrer in einer Unterkunft der Landeserstaufnahmestelle (Lea) in Karlsruhe, wurden registriert, ärztlich untersucht, lernten etwas Deutsch - und warteten darauf, endlich ihren Asylantrag stellen zu dürfen. Weil der Termin dafür erst am 16. Dezember ist, rechneten sie damit, für längere Zeit in Karlsruhe zu bleiben. Dann, vor knapp zwei Wochen, kam überraschend die Nachricht: Die drei werden verlegt, kommen in eine Anschlussunterkunft in Stuttgart - genauer: in eine Turnhalle an der Mirabellenstraße in Obertürkheim.
Unterkunft zwischen Weinbergen und Wohnhäusern: Geplant war die Hallenbelegung nicht
Knapp 120 Flüchtlinge sind in der alten Halle einquartiert - überwiegend Familien und überwiegend Syrer. Die Sonne scheint auf den Hartplatz nebenan, wo ein paar junge Flüchtlinge mit Jugendlichen aus dem Ort Fußball spielen. Sonst lässt nicht viel auf die Flüchtlingsunterkunft schließen, die vor zwei Wochen zwischen Wohnhäusern und Weinbergen eingerichtet wurde. „Notfall-Hallenbelegung" steht auf einem Aushang am Eingang - ein paar Sportgruppen müssen in die neue Turnhalle nebenan ausweichen. Geplant hat die Stadt das so nicht.
Flüchtlinge im Land - Vokabeln pauken gegen Langeweile
Lange hat das Sozialamt vermieden, Turnhallen zu belegen. Jetzt müssen die ersten fünf Hallen genutzt werden. Eine Notlösung, heißt es von der Stadt. Denn der Platz in Systembauten, Wohnungen und Containern reicht nicht mehr aus, wenn wie derzeit bis zu 1200 Menschen pro Monat zusätzlich kommen. Bis neue Gebäude stehen, werden Monate vergehen.
Pech für Sahel, Abdul und Hassan: Sie gehören zu den Ersten, die in der Landeshauptstadt in einer Turnhalle leben müssen. Denn wer jetzt ankommt, wird erst einmal hier untergebracht - kleine Kinder oder Schwangere genauso wie alleinstehende Männer. Wie lange, das ist noch offen. „Am Anfang hat man uns gesagt, das sei nur für eine Woche - weil die Leute schockiert waren, als sie das gesehen haben", erzählt Sahel. Inzwischen heißt es, sie müssten mindestens drei Monate bleiben. Sozialamtsleiter Stefan Spatz hat unlängst betont, man wolle die Leute aus den Hallen in bessere Unterkünfte verlegen, sobald welche zur Verfügung stehen. Er rechnet allerdings nicht damit, dass das vor dem nächsten Frühsommer passiert.
Deutschlernen am Handy: In der Turnhalle fehlen Ruhe und Privatsphäre
„Als wir hier ankamen, war das ein sehr enttäuschendes Gefühl", sagt Sahel. Eine große Halle, keine richtige Wohnung. „Zum Lernen ist es oft ein bisschen zu laut hier, und man hat absolut keine Privatsphäre", sagt der junge Mann. In Karlsruhe hatten die drei nicht nur feste Zimmer, sondern auch eine Internetverbindung, Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr und regelmäßig Deutschkurse in der Unterkunft. Nun lernen sie Deutsch an Tischen in der Halle - ohne Hilfe, meistens mit dem Handy. „Ich versuche die anderen zu motivieren, weiterzumachen mit dem Deutsch", sagt Sahel. Er denke viel an Syrien in diesen Tagen- an das Haus dort, an sein Zimmer. Dann macht ihm die Aussicht auf den langen Winter in der Halle noch mehr Sorgen. Vom „Gefängnis für drei Monate" spricht er und von der Hoffnung, danach tatsächlich frei zu sein.
Dass die drei ausgerechnet nach Stuttgart gekommen sind, entspringt eher einem Zufall. Jeder Stadt- und Landkreis in Baden-Württemberg muss einen bestimmten Prozentsatz der Flüchtlinge im Land aufnehmen. Für die Landeshauptstadt beträgt er 6,24 Prozent. Ob ein Asylbewerber dorthin, auf die Ostalb oder an den Bodensee kommt, hängt davon ab, wo gerade Platz ist. „Wir berücksichtigen aber familiäre Kriterien", sagt Nikolai Worms vom Integrationsministerium. Wenn sich Ehepartner oder Kinder eines Flüchtlings schon in einem bestimmten Kreis aufhalten, kommt er dorthin. Auch humanitäre Gründe spielen eine Rolle. Wer zum Beispiel eine Erkrankung hat, die nur in wenigen Kliniken behandelt werden kann, landet in einer Region, die ein solches Krankenhaus hat. „Sonstige Wünsche der Leute werden bei der Zuweisung berücksichtigt, sofern das möglich ist", so Worms. Wo genau die Stadt- und Landkreise die Menschen dann unterbringen, bestimmen sie selbst.
Jetzt also die Turnhalle. Doch nicht nur die bereitet den jungen Männern Sorge. Sondern auch, dass viele Deutsche Angst zu haben scheinen vor Flüchtlingen, vor ihnen. Sie erzählen von Menschen, die Kleiderbeutel vor der Halle abstellen und wieder gehen, ohne Kontakt zu suchen. Und von einer Nachbarin, die vorbeigehende Schulkinder vor den Flüchtlingen warnte. „Ein kleiner Junge ist ganz verängstigt an der Halle vorbeigehuscht. Das war schlimm", sagt Abdul.
Sorge vor Pegida: Dass einige Deutsche Angst haben vor denen, die da kommen, verstehen die Flüchtlinge nicht
Dass einige Deutsche Angst vor einem Wandel in der Gesellschaft haben, das verstehen sie schon. Aber dass sie Angst vor den Menschen haben, die da kommen, das verstehen sie nicht. „Wir sind ja nicht hier, um Kleidung zu erhalten oder um den Menschen etwas wegzunehmen. Bevor wir kamen, hatten wir ein Haus, ein Auto - unser Leben vor dem Krieg war gar nicht so anders als das Leben hier", sagt Abdul. Und noch etwas bereitet ihnen Sorge: „Pegida", sagt Sahel. Dieses Wort haben sie inzwischen aus den Nachrichten gelernt. Eigentlich seien sie hergekommen, um sicher zu sein, sagen sie. Nun wissen sie nicht, ob sie sich wieder bedroht fühlen müssen. Auch wenn Dresden mit der islam- und fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung weit weg ist.
Immerhin, in ihrem neuen Quartier sei es sauberer als in der Unterkunft der Landeserstaufnahmestelle, finden die drei. Das Essen schmeckt besser. Und statt mit 400 Leuten wie in der Kriegsstraße in Karlsruhe leben sie hier eben nur mit 120 Menschen unter einem Dach. Auch Obertürkheim gefällt ihnen - und die Form der Wohnhäuser, die um die Halle herum stehen. Und schließlich müsse man immer nach vorne gucken, sagt Sahel und grinst ein bisschen.
Also unternehmen sie viel. Am Wochenende sind die drei in die Stadt gefahren, um sich die neue Ausstellung in der Staatsgalerie anzusehen - gemeinsam mit ihrer Deutschlehrerin aus Karlsruhe, die zu Besuch gekommen ist. Hassan spielt jeden Tag Fußball. Oft gehen sie in ein Café zum Billardspielen und um unter Leute zu kommen. „Wir würden gerne mehr Deutsche treffen, wollen alles kennenlernen, uns anpassen und Teil der Gemeinschaft sein", sagt Sahel. „Es wird alles gut werden, das weiß ich."
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