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Radio FM4 - Online (12)

Ein Mann steht in der Tür eines Restaurants. Er scheint der Besitzer des Lokals zu sein. Schützend hält er die Arme vor die Menschen, die sich hinter ihm drängen. Der Mann faltet die Hände, hebt sie in die Höhe. Verzweifelt schreit er - Angst und Machtlosigkeit stehen ihm ins Gesicht geschrieben.

Auf der Straße fallen Schüsse. Schreie. Wieder Schüsse. Wieder Schreie. Menschen laufen in die unterschiedlichsten Richtungen. Möglichst weg von der Polizei, die wie eine wild gewordene Meute auf alles einschlägt und schießt, das ihr in die Quere kommt.


Flucht

In dieser Nacht des 25. September gleichen die Straßen Madrids jenen eines Landes, in dem Bürgerkrieg herrscht. „Das ist schlimmer als zu Zeiten Francos!", empört sich ein älterer Mann. 1.300 Polizisten hatte man am gestrigen Nachmittag aus ganz Spanien in die Hauptstadt zitiert. Unterschiedliche zivile Gruppierungen hatten zuvor dazu aufgerufen, sich rund um das spanische Parlament zu versammeln, in dessen Räumen die konservative Regierung unter dem "Partido Popular" (der spanischen Volkspartei) neuerliche Kürzungen für das krisengebeutelte Land vereinbaren sollte. Erst im März hatte sie das größte Sparpaket seit Wiedereinführung der Demokratie im Jahr 1977 beschlossen.

Im Juli verkündete man weitere Sparmaßnahmen, nachdem sich der marode Staat im Juni doch unter den Euro-Rettungsschirm geflüchtet hatte. 100 Milliarden Euro sollen so eingespart werden - weitaus mehr, als ursprünglich geplant waren. Die Maßnahmen sehen massive Kürzungen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsektor vor. Irregulären Migranten, die sich in Spanien aufhalten, wird jegliche Gesundheitsversorgung per Gesetz verweigert. Im August wehrte sich die Organisation "Ärzte der Welt" in einem Protestvideo gegen diese Maßnahmen. Die Mehrwertssteuer wurde ab Anfang September von 18 auf 21 Prozent erhöht, das Arbeitslosengeld verringert und Leistungen für öffentlich Bedienstete gekürzt.

Es ist Spaniens großer Aderlass.

Doch die Bevölkerung ächzt angesichts dieser drastischen Mittel. Schon im Juni gingen 100.000e Spanier auf die Straßen. Die Arbeitslosigkeit war im Juli auf ein Rekordhoch von 25% geklettert und damit so hoch wie zuletzt 1976. Unter Jugendlichen liegt sie gar bei 50%, was viele von ihnen veranlasst, in andere europäische Länder oder in die ehemaligen Kolonien am lateinamerikanischen Kontinent auszuwandern. Immer mehr Menschen können sich das Leben nicht mehr leisten: sie verlieren ihre Wohnungen, können ihre Kredite nicht zurückzahlen und haben nichts zu Essen. Viele der Menschen, die in Armut geraten, hätten sich nicht gedacht, dass es sie jemals treffen würde. Am 25. September machen sie diesem Ärger neuerlich Luft. Es sind vorwiegend junge Menschen, die auf die Straße gehen. Aber auch Pensionisten, Arbeiter, Arbeitslose.


Eskalation

Zunächst verläuft der Protest friedlich. Bis die Situation gegen sieben Uhr abends eskaliert. Eine Gruppe von Demonstranten hatte versucht, die Absperrung zu durchbrechen, worauf die Polizei mit Knüppelschlägen antwortete. Manche Demonstranten mögen sich an die Geschehnisse in Barcelona im Mai 2011 erinnert haben, wo die spanischen Sicherheitskräfte ähnlich rabiat gegen Demonstranten vorgingen.

Man verlange die Demokratie zurück, sagen Demonstranten der Presse. Die Politik, welcher die Regierung momentan folgt, wäre eine Politik gegen die eigene Bevölkerung, ist man sich außerdem sicher. Die Politiker der regierenden Volkspartei sehen das anders. Sie wären vom spanischen Volk gewählt worden, erklärt die Abgeordnete Cristina Cifuentes. Einen Tag vor der Demonstration hatte sie angekündigt, dass man eine Versammlung rund um das Parlament nicht akzeptieren würde. Tags darauf gratuliert sie der spanischen Polizei in einem Interview mit dem nationalen Radiosender zur erfolgreichen Niederschlagung des Protests. Die Generalsekretärin der Volkspartei ging so weit, die Demonstration mit einem Staatsstreich zu vergleichen.

Alberto Garzón Espinosa, Abgeordneter der Oppositionspartei "Izquierda Unidad" ("Linke Einigkeit"), verlässt den Plenarsaal des Parlaments gemeinsam mit seinen Parteikollegen während der Sitzung am 25. September. Er begibt sich zu den Demonstranten auf den Straßen Madrids, um sich ihrem Protest anzuschließen. Auf seinem Blog schreibt er: "Sie sagen, wir wollen einen Staatsstreich. Aber das stimmt nicht. Was wir wollen, ist ein Schlag auf den Tisch. Wir wollen Demokratie. Wir wollen ein Recht, das uns repräsentiert und verteidigt. Wir wollen ohne Angst leben."

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