14 subscriptions and 19 subscribers
Article

Radio FM4 - Online (10)

Februar 2007. Es ist ein typisch argentinischer Sommertag, heiß und schwül, als ein Anruf eingeht. „Am Bahnhof Once ist was los, komm her, wenn es dich interessiert", brüllt Dionisio ins Telefon. Dann legt er auf. Zu laut ist es im Hintergrund, als dass er noch mehr erklären könnte.

Während ich mich dem Bahnhof mitten in Buenos Aires nähere, überfällt mich plötzlich ein mulmiges Gefühl. In diesem Stadtteil sollte ich mich nicht aufhalten, wurde mir vorher oft gesagt. Die Straßen sind voller Müll, die Häuser heruntergekommen. Nach den prächtigen Bauten, die von besseren Zeiten zeugen und die man aus anderen Stadtvierteln kennt, sucht man hier vergeblich. Menschen lungern auf den Straßen herum, wühlen im Mist, bitten um Geld. In der Vorhalle des Bahnhofs herrscht Chaos, ein Mann schlägt auf seine Trommel ein, jemand drückt mir einen Zettel in die Hand, es ist laut. Ich suche Dionisio. Überall stehen Menschen herum, manche mit vermummten Gesichtern. Auf mich wirken sie furchteinflößend, es ist das erste Mal, dass ich so etwas miterlebe.

In der Menge entdecke ich Dionisio. Er ist Fotograf und Filmemacher, berichtet meistens über soziale Proteste. Er erklärt mir, dass die Preise der Zugtickets erhöht werden sollen und sich die Menschen dagegen zur Wehr setzen. Es werden „Protesttickets" verteilt, kleine Zettel, auf denen dazu aufgefordert wird, schwarz zu fahren.

An diesem Dienstag im Februar 2007 weiß ich nicht so genau, was dieser Protest bedeutet. Später aber wird mir klar, dass all das die Nachwirkungen dessen sind, was Argentinien 2001 in eine tiefe Krise gestürzt und zum kompletten Staatsbankrott geführt hatte.


Militärdiktatur und Finanzkrise

Es ist das private Unternehmen TBA (Trenes de Buenos Aires), das die Zuglinie vom Bahnhof Once in die 36 Kilometer nordwestlich liegende Stadt Moreno betreibt. Im Jahr 2007 wurden auf dieser Strecke 113.907 Personen befördert, sie ist eine der wichtigsten Bahnlinien für Pendler. Ursprünglich waren die Zuglinien Argentiniens staatliche Unternehmungen. Der 1946 mit 52% Stimmanteil gewählte nationalpopulistische Präsident Juan Domingo Perón bemühte sich während seiner ersten Regierungsperiode um eine stärkere Sozialpolitik, im Zuge derer die Zuglinien Argentiniens 1948 verstaatlicht wurden. Juan Perón stirbt 1974 während seiner zweiten Amtsperiode. Seine Ehefrau Isabel Perón übernimmt die Regierungsgeschäfte, wird aber 1976 vom Militär gestürzt.

1983, nach beinahe drei Jahrzehnten politischer Instabilität, die geprägt waren von Militärdiktaturen und zehntausenden verschwundenen Oppositionellen, findet Argentinien zurück zur Demokratie. Was danach kommt, sollte Argentinien in die größte Krise seiner Geschichte nach der Unabhängigkeit im Jahr 1810 stürzen. Der neu gewählte Präsident Raúl Alfonsín übernimmt einen wirtschaftlich und sozial stark geschwächten Staat. Das Land ist im Ausland mit 43 Milliarden Dollar verschuldet, die Löhne stark gesunken. Während der sechs Jahre seiner Amtszeit schafft Alfonsín es nicht, die Kontrolle über den maroden Staat zu gewinnen. Am Ende seiner Regierungszeit gallopiert die Hyperinflation dahin wie ein wild gewordenes Pferd, während beinahe die Hälfte aller Argentinier in Armut lebt.


Neoliberale Politik bis zum Staatsbankrott

In den späten 90ern kommt der Rechtsanwalt Carlos Menem an die Macht. Seine Politik während der folgenden zehn Jahre sollte Argentinien endgültig in den Abgrund stürzen. Im Wahlkampf versprach er eigentlich Reformen nach peronistischem Vorbild, die den Sozialstaat stärken sollten. Als er aber schließlich im Präsidentenamt vereidigt ist, beginnt er, sich Modellen des freien Marktes ganz im Sinne des sogenannten Washington Consensus zuzuwenden. Dieser wurde 1989 entwickelt, um wirtschaftlich kaputte Staaten zurück auf den Weltmarkt zu holen - vor allem der IWF und die Weltbank verteidigten dieses Wirtschaftskonzept in ganz Lateinamerika. Darin werden zehn Richtlinien propagiert, welche die nationalen Wirtschaften wiederbeleben sollten.

So fordert der Washington Consensus etwa die Privatisierung von Staatsunternehmen, die Deregulierung und Liberalisierung der Märkte oder den Abbau von staatlichen Subventionen. Der Staat sollte sich aus der Wirtschaft so weit als möglich zurückziehen und eine untergeordnete Rolle einnehmen.

Argentinien mausert sich nach 1990 zum Musterschüler, setzt um, was der Washington Consensus vorgibt. Es werden unzählige Staatsunternehmen - darunter auch die nationalen Zuglinien - privatisiert, die Wirtschaft liberalisiert und eine neue Währung geschaffen, die man 1 zu 1 an den US-Dollar koppelt. Steuern für Unternehmen werden gesenkt, um ausländisches Kapital ins Land zu holen, Steuern für die Bevölkerung hingegen drastisch erhöht.

Drei Jahre lang funktioniert diese Politik. Die Wirtschaft erholt sich und beginnt zu florieren. Doch dann passiert, woran offenbar niemand gedacht hatte: eine wirtschaftliche Krise im entfernten Mexiko stößt einen Dominoeffekt an, der das von ausländischem Kapital und Export abhängige Argentinien mitreißt. Der IWF verlangt immer strengere Sparmaßnahmen, um dem Land weitere Kredite zu gewähren. Am Ende steigt die Auslandsverschuldung auf 145 Milliarden Dollar an, ausländische Unternehmen ziehen ihr Kapital aus dem südamerikanischen Land ab. Korruption auf höchster Ebene und Demokratiedefizit tun ihr Übriges, die Krise ist perfekt, der Staatsbankrott vorprogrammiert.


Die Mittelschicht auf der Straße

Dezember 2001. Der Klang von Metall und Trommeln liegt über Buenos Aires. „¡Que se vayan todos! - Alle sollen abhaun!", singen Horden von Menschen, die begleitet von einem Hupkonzert durch die Straßen der Stadt ziehen. Es ist eine aufgebrachte Masse, die Mittelschicht - Studenten, Verkäufer, Pensionisten, Hausfrauen, Busfahrer, Arbeitslose - die ihrem Ärger an diesem 19. Dezember Luft macht. Lange hatten sie dem Treiben der Politiker und Ökonomen zugesehen. Als der Bargeldumlauf in Argentinien beschränkt wurde, wöchentlich nur mehr 250 Pesos bei den Banken behoben werden durften und schließlich die Konten eingefroren wurden, eskalierte die Lage. Diese Situation war für die Menschen in Argentinien nicht mehr tragbar.

Februar 2012. Die Bilder, die uns in den letzten Tagen aus Griechenland erreichen, erinnern ein bisschen an jene aus dem Argentinien der Jahrtausendwende. Auch hier ist es die Mittelschicht, die die Krise und die Sparmaßnahmen am stärksten zu spüren bekommt. So lag etwa die Arbeitslosigkeit im November 2011 bei 20,9%, unter Jugendlichen gar bei 50%. Am 12. Februar stimmt die griechische Regierung um Mitternacht dem vierten Sparpaket innerhalb von zwei Jahren zu. Dieses ist notwendig, um ein zweites, internationales Hilfspaket von der Europäischen Union und dem IWF zu erhalten. Vor der Abstimmung im Parlament schreibt der griechische Premierminister Papademos auf Twitter: „Leider ist die einzige Alternative zur heutigen Einigung der Bankrott. Wir sind uns bewusst, dass dieses Wirtschaftsprogramm kurzfristig Opfer für die Griechen bedeutet."


Analogien

Die heutige Krise in Griechenland weist Analogien zu jener in Argentinien vor zehn Jahren auf. Vor allem die Maßnahmen, mit denen auf die Krise reagiert wird, sind ähnlich. Privatisierungen und Steuererleichterungen für Unternehmen auf der einen; Steuererhöhungen für die Bevölkerung, finanzielle Kürzungen im Sozialbereich und Abbau von Arbeitsstellen auf der anderen Seite.

Wie mit der Krise umgegangen werden soll, wird in beiden Fällen von außen diktiert. Dennoch kann man das argentinische Ausstiegsszenario nicht einfach auf die Situation in Griechenland übertragen. Argentinien schaffte den Ausstieg durch eine Entkoppelung des Pesos vom Dollar und startete unter dem linksperonistischen Präsidenten Néstor Kirchner eine erfolgreiche Umschuldungspolitik. Heute ist die argentinische Wirtschaft eine der am schnellsten wachsenden in ganz Lateinamerika.

Griechenland hingegen ist weitaus höher verschuldet, als es Argentinien jemals war: mit über 300 Milliarden Euro. Zudem ist das Land in eine Wirtschaftsunion mit gemeinsamer Währung eingebunden, auf welche eine Staatspleite schwerwiegende Auswirkungen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene hätte. Ökonomen glauben, dass ein Bankrott eine neuerliche Bankenkrise zur Folge hätte, da diese die Gläubiger Griechenlands sind. Dies ist vermutlich der Hauptgrund, weshalb sich die deutsche Kanzlerin Merkel und der französische Präsident Sarkozy gegen solch ein Szenario sträuben.

Die griechische Bevölkerung aber - das haben die Proteste der letzten Tage, Wochen und Jahre gezeigt - will vermutlich nur eines: ein Ende der Krise, die sie nicht selbst verschuldet haben, für die sie aber gerade stehen müssen. Wenn notwendig, womöglich sogar über einen Staatsbankrott.

Original