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Abgelehnte AsylwerberInnen: Leben in der Schwebe

Man nehme die Anzahl der bestehenden Ausreisebescheide in einem gegebenen Jahr und subtrahiere davon die Anzahl der Personen, die in diesem Jahr de facto ausreist. Das Ergebnis ist die Gesamtheit der nicht-abschiebbaren bzw. nicht-abgeschobenen Menschen, die weiterhin im Land bleibt – meist unter äußerst prekären Umständen, sozialrechtlich marginalisiert und/oder aufenthaltsrechtlich nicht erfasst. Wie in einzelnen europäischen Ländern der Zugang zu sozialen Rechten und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen für diese „nicht gewollte“ Gruppe geregelt ist und praktiziert wird, ist Thema eines FWF-Projekts unter der Leitung von Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger.

Die Gruppe der nicht-abschiebbaren Personen lebt in einem Schwebezustand: Sie kann weder abgeschoben werden, noch verfügt sie über einen aufenthaltsrechtlichen Status, sie lebt sozial prekär und marginalisiert – so heißt es im jüngst erschienen Policy Brief der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE), verfasst von den PolitikwissenschafterInnen Sieglinde Rosenberger, Ilker Ataç und Theresa Schütze. Das Dokument fasst kurz und knapp die Ergebnisse ihres FWF-Projekts zusammen, in dem der rechtliche und faktische Zugang zu sozialen Rechten und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen für nicht-abschiebbare Personen Thema ist.


Im Zielland besteht das Risiko einer Menschenrechtsverletzung, der gesundheitliche Zustand erlaubt die Ausreise nicht oder ausländische Botschaften stellen keine Heimreisezertifikate aus: „Nicht-abschiebbar“ sind Personen aus rechtlichen, humanitären oder faktischen Gründen. Laut Schätzungen der EU-Kommission trifft dies im Jahre 2018 auf mehr als eine Million Menschen auf EU-Territorium zu. „Die Datenlage ist vage. Wie viele Personen tatsächlich mit einem aufenthaltsrechtlich prekären Status in der EU sind, lässt sich allein aufgrund der unterschiedlichen Rechtslagen in den EU-Mitgliedsländern nicht sagen“, merken die WissenschafterInnen an.

Eine Hürde, die sich ihnen auch im Forschungsprozess stellte: „Europaweite Statistiken zu negativen Asylentscheidungen, zu Ausreisebescheiden oder tatsächlich vollzogenen Ausreisen basieren auf unterschiedlichen Rechtslagen. EUROSTAT fasst die Länderzahlen zusammen, ohne dass eine exakte Vergleichbarkeit gegeben wäre“, erklärt Mitarbeiterin Theresa Schütze. Im Projekt arbeiteten die PolitikwissenschafterInnen die wissenschaftliche Literatur sowie die diversen Länderstudien zur aufenthalts- und sozialrechtlichen Situation in Österreich, Schweden und den Niederlanden auf und führten in allen drei Ländern zahlreiche Interviews mit ExpertInnen, die den Zugang zu sozialen Leistungen regeln und implementieren, durch.

Dabei kamen die wichtige Rolle von Behörden und niederschwelligen Einrichtungen, die persönlichen Haltungen und kulturellen Deutungen der Zuständigen deutlich zutage. Auch Gespräche mit betroffenen Personen wurden geführt. „In unserem Projekt stand zwar nicht die Lebenssituation der nicht-abschiebbaren Menschen im Mittelpunkt, sondern der politische Umgang mit dem Phänomen, nichtsdestotrotz wollten wir auch Erfahrungen der Betroffenen hören, um das Problembewusstsein zu schärfen.“


Unterkunft, medizinische Versorgung, Bildung und ein Minimum an finanzieller Unterstützung – anhand dieser sozialrechtlichen Dimensionen verglich das Team vom Institut für Politikwissenschaft Österreich, Schweden und die Niederlande. „Wir haben diese Länder ausgewählt, weil sie ähnliche Bedingungen aufgrund europäischer Richtlinien (sozialer Mindeststandards) und internationaler Abkommen teilen und doch eine recht unterschiedliche Praxis an den Tag legen“, erklärt Projektleiterin Sieglinde Rosenberger. Diese unterschiedlichen Grade der Versorgung vor Ort hängen mit kurzfristigen politischen Positionen zur Sozial- und Migrationspolitik zusammen.


Was kam heraus? „Nicht-abschiebbare Personen, vor allem abgelehnte AsylwerberInnen, haben in allen drei Ländern unter ähnlichen Bedingungen Zugang zu Notversorgung im Krankheitsfalle und zu Grundschulbildung; dies hängt primär damit zusammen, dass Gesundheitsleistungen und Bildung durch internationale Abkommen geregelt sind. Die Regelung der Unterbringung, das Wohnen also, ist hingegen Gegenstand der nationalen und sub-nationalen Politikgestaltung. Folglich ist der Zugang zu Unterkünften für nicht-abschiebbare Personen schwierig und im Vergleich divers geregelt“, berichtet Ilker Ataç über die Ergebnisse. Hier spielen parteipolitische Überlegungen und Signale an die wählende Bevölkerung eine Rolle.


Was sich weiters gezeigt hat: Auf lokaler Ebene, also in Bundesland- oder Stadtregierungen, ist der Zugang zu sozialen Basisleistungen offener gestaltet. „Für nationalstaatliche Politik stehen Souveränität und Migrationskontrolle im Vordergrund, für die lokale Politik ist das alltägliche Zusammenleben und die soziale Ordnung relevanter“, erklären die WissenschafterInnen: „Dort wird der Zugang zu sozialen Leistungen eher gewährt, um Probleme wie Obdachlosigkeit oder Straffälligkeit der nicht-abschiebbaren Personen zu vermeiden.“


Auf nationaler Ebene hat der Ministerrat im Februar 2017  ein weiteres Fremdenrechtspaket beschlossen. Ziel der Maßnahmen ist eine schnellere Außerlandesbringung von abgelehnten AsylwerberInnen, die Instrumente dazu sind mehr Kontrolle und hohe Strafen. „Dass Nicht-Abschiebbarkeit ein rechtliches, humanitäres und politisches Faktum ist, geht in der Abschiebungseuphorie unter; folglich fehlen aber die Antworten auf die sozialen Herausforderungen, die damit einhergehen“, erklären die WissenschafterInnen.

Das wollen sie ändern: Mit Workshops, Präsentationen und Diskussionen, Publikationen und Policy Briefs machen sie auf ihre Ergebnisse aufmerksam. „Wir möchten mit unserer Forschung ein Bewusstsein für die Grenzen des Instruments der Abschiebung schaffen und einen differenzierten Blick anbieten, der sowohl die Lage von nicht-abschiebbaren Menschen als auch die damit einhergehenden sozialen Probleme beleuchtet“, betont das Team.


Wie den sozialen Problemen durch Nicht-Abschiebbarkeit politisch begegnet werden könnte? Rosenberger und ihr Team haben konkrete Ideen: Ihre Empfehlungen im ÖGfE-Policy Brief  reichen von der Regularisierung von betroffenen Personen über die Gewährleistung sozialer Basisversorgung für nicht-abschiebbare Personen bis zur Schaffung EU-weit einheitlicher aufenthalts- und sozialrechtlicher Regelungen. „Wir hoffen, dass wir mit unseren Ergebnissen ein wenig die politische Debatte, die derzeit beinahe ausschließlich auf Abschottung und Abschiebung fokussiert, versachlichen können und so politische Maßnahmen problemorientierter formuliert werden.“ (hm)