Gina Reimann

Freelance journalist, writer, Berlin

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Verunglimpfung statt Terrorpropaganda

"Freiheit für die Akademiker" und "Freiheit für die Stifte" steht in großen Lettern auf den Bannern und Plakaten der rund 500 Demonstrierenden, die sich am Nachmittag des 22. April vor dem Justizpalast in Istanbul versammelt haben. Sie sind gekommen, um Esra Mungan, Muzaffer Kaya, Kıvanç Ersoy und Meral Camcı zu unterstützen und gegen die Inhaftierung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu protestieren. Es ist der Beginn eines Prozesses, der einmal mehr das eigentümliche Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei deutlich macht. Der Vorwurf: Die Angeklagten hätten "Propaganda für eine terroristische Organisation" verbreitet. Bei einem Schuldspruch droht eine Gefängnisstrafe bis zu siebeneinhalb Jahren. Die Angeklagten hatten Anfang Januar eine Petition unterzeichnet, die das harte Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kritisiert und die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit selbiger fordert (Jungle World 03/2016). Weltweit haben die Petition mittlerweile mehr als 2 000 Menschen unterzeichnet. Das Interesse an der Protestaktion war groß, auch international bekannte Personen wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek und der US-amerikanische Linguist Noam Chomsky unterschrieben.

Am 10. März hatten die vier Akademiker bei einer Pressekonferenz zu Friedensverhandlungen aufgerufen und die Repression gegen die Unterzeichner der Petition kritisiert, von denen 20 verhaftet worden waren. Die meisten Inhaftierten wurden rasch wieder aus der Untersuchungshaft entlassen, die Verbliebenen müssen sich nun für das Initiieren der Petition verantworten.

"Die letzten Monate waren für uns alle zermürbend", sagt Mert Karabiyikoglu. Er ist Dozent an der Middle Eastern Technical University in Ankara und Unterzeichner der Petition. Nie hätte er gedacht, dass die Protestaktion derartige Ausmaße annehmen würde. Karabiyikoglu entging zwar einer Anzeige, fürchtet in Folge der medialen Aufmerksamkeit aber Repressalien.

Entgegen aller Erwartungen ließ der Staatsanwalt gleich am ersten Verhandlungstag die Anklage fallen. Die Angeklagten atmeten auf, unter den Zuschauern im Saal brach Jubel aus. Als "emotional aufgeladen" beschreibt Karabiyikoglu die Stimmung, als das Gericht die Entlassung der Angeklagten anordnet. Noch am gleichen Tag verließen die vier das Gebäude als freie Menschen - vorerst. Der Staatsanwalt beantragte eine Wiederaufnahme des Verfahrens, diesmal jedoch mit geänderten Anklagepunkten. Gemäß Paragraph 301 des türkischen Strafgesetzbuchs ist das "Verunglimpfen des Türkentums" ein Straftatbestand. Darunter fällt neben dem Beleidigen respektive Verunglimpfen der Türkei als Staat auch das Schlechtreden der türkischen Nation und ihrer staatlichen Einrichtungen. Ob der Staatsanwalt mit seiner Forderung Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten, die Erlaubnis des Justizministeriums zur Anklageänderung steht noch aus. Der Prozess soll am 27. September fortgesetzt werden. Sollte eine Änderung der Anklagepunkte bewilligt werden, müssen die Angeklagten mit einer Freiheitsstrafe von höchstens zwei Jahren rechnen.

Was die Staatsanwaltschaft dazu bewogen hat, die ursprüngliche Anklage fallenzulassen, ist unklar. Türkische Justizorgane siind nicht für ihre Milde bekannt. Nicht erst seit der Einbestellung des deutschen Botschafters nach Ankara aufgrund eines satirischen Liedes über Präsident Recep Tayyip Erdo­ğan im deutschen Fernsehen und der Anzeige gegen Jan Böhmermann wird der Türkei vorgeworfen, es mit der Meinungs- und Pressefreiheit nicht allzu genau zu nehmen. Fast täglich kommen neue Beschwerden Erdoğans gegen kritische Darstellungen seiner Person oder der Politik der Türkei hinzu. Im Land selbst müssen der Opposition nahestehende Redaktionen schließen, regierungskritische Journalisten werden bedroht, kriminalisiert und unter fadenscheinigen Begründungen für Jahre weggesperrt. Vergangene Woche wurden etwa zwei Kolumnisten von Cumhuriyet, Ceyda Karan und Hikmet Çetinkaya, der Zeitung zufolge zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie eine Mohammed-Karikatur des Satiremagazins Charlie Hebdo wiedergegeben hatten.

Für Karabiyikoglu und seine Freunde gehört Paragraph 301 besser heute als morgen abgeschafft, denn der unklar definierte Tatbestand fördert Willkür. Ein Trauerspiel der Justiz nennt Karabiyikoglu den Prozess und die Geschehnisse der vergangenen Monate. Viel schlimmer als die Verfolgung durch die türkischen Behörden sei für ihn jedoch die Verbrüderung einiger Personen und Institutionen mit der Regierung, die jedwede Opposition im Keim zu ersticken versucht. Regierungstreue Journalisten wie Ferhat Ünlü forderten gesetzliche Initiativen gegen den "intellektuellen Terror" und auch die Hochschulleitungen hätten keine Zeit verstreichen lassen und die eigenen Angestellten, die zu den Unterzeichnern der Petition gehörten, auf schwarze Listen gesetzt und öffentlich geächtet. Das war für viele die größte Enttäuschung. Für einige von ihnen wird es schwierig werden, einen neuen Lehrauftrag an einer türkischen Universität zu finden, so die Befürchtung.

Doch Karabiyikoglu sagt auch, er habe in den vergangenen Monaten viel gelernt. Man könne etwas bewirken, wenn man als Gruppe zusammenhält. Das wecke in ihm Zuversicht, dass Veränderung möglich sei. Allerdings habe er erfahren müssen, wie stark in das eigene Privatleben eingegriffen wird, wenn man es wagt, öffentlich seine Unzufriedenheit über Regierungsentscheidungen kundzutun. Ob er erneut öffentlich Kritik an der Regierung, an Präsident Erdoğan und seiner Partei AKP übenwürde? Er zögert kurz. "Ja, ich würde es wieder tun. Das würden wir alle, da bin ich mir sicher."

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