Wenn Layla mit ihrer Mutter einkaufen geht, wird sie angestarrt. Die Leute hören mitten im Satz auf zu reden, drehen ihre Köpfe und fangen an zu tuscheln. Ihre Mutter Lydia bemerkt das, sie sagt dann: „Wir hätten eine Dose mitnehmen müssen mit einem gut lesbaren Schild: Gaffen kostet extra. Das Geld würde für unseren Einkauf reichen.“ Sie sind in Frankfurt am Main, laufen die große Einkaufsstraße entlang. Die Menschen machen einen Bogen um sie, als ob sie gefährlich wären. Bei H&M steht ein Kind neben ihnen und schaut neugierig. Doch die Eltern zerren es weg. Layla ruft ihnen hinterher: „Das ist nicht ansteckend, was meine Mama hat." Laylas Mutter ist blind, zwei Prozent Sehkraft sind ihr geblieben. Sie tastet sich beim Gehen mit einem Blindenstock voran und trägt eine dunkel getönte Brille. Laylas Vater ist auch blind. Für sie ist das normal, für viele andere nicht.
Layla Zoubek, 18, wilde schwarze Locken, hat gelernt, damit umzugehen. Mit 13 Jahren wollte sie nicht mehr mit ihrer Mutter einkaufen gehen. Sie konnte die Blicke nicht ertragen, sie hatte das Gefühl, auf einer Bühne auftreten zu müssen. Erst später merkte sie, wie viel sie durch ihre Eltern auch gelernt hat. Nicht so sehr auf Äußeres zu achten zum Beispiel. Oder genau zuzuhören. Layla und ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Bilal fällt heute auf, wenn andere viele Füllwörter wie „ähm“ oder „äh“ benutzen. Sie sprechen laut und deutlich, ein einfaches Nicken können die Eltern ja nicht sehen. Kleidung ist Layla nicht so wichtig. Bis heute zieht sie lieber Bilals zu große Pullover an, als selbst shoppen zu gehen.
Ihre Mutter könnte sie nie fragen, was ihr gut steht. Lydia Zoubek hat ihre Tochter noch nie gesehen. Sie kann nicht sagen, welche Augenfarbe sie hat. Wenn Layla vor ihr steht, erkennt sie eine helle Fläche dort, wo das Gesicht und die Hände sind, alles andere ist dunkles Grau. Im Sommer sind die Beine hell, dann weiß sie, dass Layla einen kurzen Rock trägt. Layla umarmt ihre Mutter, wenn sie geht. Die fühlt dann, welches Oberteil ihre Tochter trägt. Manchmal schimpft sie, weil Laylas Haare feucht sind und sie die nicht geföhnt hat. Layla sagt, sie hat die Blindheit ihrer Eltern noch nie ausgenutzt.
Sie möchte ehrlich sein, ihrer Mama keinen Ärger machen. Sie kennt die Geschichte, die im Jahr ihrer Geburt passiert ist: 1999, Lydia Zoubek war schwanger mit Layla. Eine Bekannte kam in die Wohnung, es gab Kaffee. Sie unterhielten sich, plötzlich sagte sie: Wie kannst du das eigentlich verantworten? Wer soll sich denn um das Kind kümmern? Du bist blind, dein Mann ist blind, ihr seid doch behindert. Eine Zumutung. Sie war nicht die Einzige, die das zu Laylas Mutter gesagt hat.
Lydia Zoubek kann ihre Blindheit nicht vererben. Ihre Geburt war schwierig, Ende der 60er-Jahre in Jordanien. Hätte Laylas Großmutter die richtige Hilfe gehabt, wäre Lydia nicht blind geworden. Laylas Vater hat eine seltene Krankheit, Achromatopsie. Nur wenn die Krankheit in beiden Familien schon mal vorgekommen ist, besteht für die Kinder ein Risiko. In der Familie von Laylas Mutter ist aber niemand blind außer ihr.
Auch nicht Layla oder Bilal. Sie müssen jedes Jahr zum Augenarzt gehen, Sehtests machen. Doch die Ärzte finden nichts Auffälliges. Bei 15 Prozent liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Laylas Kinder einmal blind werden könnten. Aber nur, wenn in der Familie des Mannes jemand betroffen ist, sie hat keine Angst davor.
Früher wollte sie wissen, wie das ist, blind zu sein. Dann hat sie sich die Augen zugehalten und sich von ihrem Papa seine Welt erklären lassen, er brachte ihr auch bei, wie man die Brailleschrift liest. Als Layla klein war, hat sie gern Bilder gemalt. Menschen, Katzen. Ihre Mutter und ihr Vater konnten die nicht sehen, deshalb fügte sie irgendwann 3-D-Elemente ein. Die Tatzenabdrücke der Katze, die konnte ihre Mama spüren, so oft hat Layla das Deckweiß übereinandergeschmiert. Das Bild hängt jetzt an der Wand im Wohnzimmer, daneben sind Bilder aus Bügelperlen, ein Delfin, ein Mädchen. Und Familienfotos, die stehen auch noch da.
Ihr Vater Martin, inzwischen 60, hat sie gemacht. Das Leben von Layla und Bilal hält er in Bildern fest. Auch wenn er erst hinterher erkennt, was da eigentlich drauf ist. Dias eignen sich gut. Wenn Layla Fotos aus der Kindheit sehen möchte, baut ihr Papa den Projektor auf, dann sind die Bilder so groß, dass er etwas erkennt. Layla mag diese Momentaufnahmen, auch wenn manche unscharf sind.
Es gibt ein Bild, auf dem Layla in einem Bobby-Car sitzt, ihr Bruder hinter ihr und ein fremder Junge. Laylas Eltern wollten immer, dass ihre Kinder so viel Zeit wie möglich unter sehenden Menschen verbringen. Mit fünf Monaten kam Layla in eine Krabbelgruppe, mehrmals die Woche zur Tagesmutter. Von ihr lernte das Mädchen auch die Ampel, und was welche Farbe ist. Ihre Eltern wissen, dass es Farben wie Rot und Grün gibt, nur gesehen haben sie die nie. Auto fahren können sie nicht, als Kind war Layla viel mit dem Bus unterwegs. Inzwischen hat sie selbst einen Führerschein und fährt jeden Tag mit dem Motorrad. Noch vor dem Sommer möchte sich Layla ein Auto kaufen. Vor allem, um anderen blinden Menschen beim Einkaufen zu helfen, das will sie zu ihrem Nebenjob machen. Sie weiß, wie viel umständlicher alles mit dem Bus ist.
Beim Busfahren haben Layla und Bilal gelernt, dass man nach Hilfe fragen kann. Noch bevor sie in die Schule gingen, fragten sie den Fahrer selbstbewusst, welche Nummer sein Bus hat und wo er langfährt. Einmal erklärte ihnen ein Fremder, wie man den Fahrplan liest, damit sie ohne ihre Mutter nach Hause zurückfinden konnten.
Wenn es laut ist, kann sich ihre Mutter nicht gut orientieren. Auf Schulfesten etwa. Sie mietete sich eine Assistenz, eine fremde Frau kam als Begleitung mit, konnte ihr sagen, wo das Buffet war und was darauf stand, oder auch mal nach den Kindern schauen. Layla und Bilal haben das gar nicht mitbekommen, sie dachten lange Zeit, sie wäre eine Freundin von Mama.
Als Layla Läuse hatte, kam jede Woche jemand vorbei. Das Shampoo hat ihre Mutter selbst aufgetragen, die Nissen ausgekämmt. Doch nachschauen, ob noch Läuse auf dem Kopf waren, das konnte sie nicht. Deshalb bezahlte sie jemanden, nur damit die Kinder nicht unangenehm auffielen. Auch für die Hausaufgaben kam eine fremde Frau, Layla nannte sie die „Lern-Oma“. Die übte mit den Kindern Lesen und kontrollierte die Handschrift.
In der Schule wurden die beiden trotzdem gehänselt. Vor allem Bilal. In der zweiten Klasse passierte es jede Pause: Eine Gruppe von Jungs kam zu ihm, schubste ihn, lachte ihn aus: „Hahaha, deine Eltern sind blind!“ Die Mitschüler guckten zu, auch die Lehrer machten nichts. Es war seine Schwester, die ihm geholfen hat. Bilal durfte sich zu Layla und den älteren Freunden auf dem Schulhof stellen. Erst dann wurde es besser.
Briefe aus der Schule können Laylas Eltern einscannen, der Computer liest die vor, dafür haben sie ein spezielles Programm installiert. Wenn sie ins Kino gehen, laden sie sich vorher eine Tonspur herunter, setzen sich einen Knopf ins Ohr, der alles erklärt, was auf der Kinoleinwand zu sehen ist. Beim Backen spricht die Küchenwaage mit ihnen. Laylas Mutter merkt, wenn die Kinderzimmer unordentlich sind. Wenn viele Pullover und Hosen auf der Erde liegen, klingt der Raum nämlich anders, Stimmen sind gedämpfter. Layla hört das inzwischen auch, wenn sie mit ihren Freunden telefoniert.
Und sie übernimmt noch mehr von ihren Eltern, Dinge, die sonst Menschen tun, die nicht so gut sehen können. Wenn sie einen Teller abwäscht, streicht sie hinterher noch einmal mit den Fingern über die glatte Fläche. Spürt sie etwas Unebenes, weiß sie, dass sie nicht gründlich war. Sie kann sich gut im Dunklen orientieren, besser als ihre Freunde, nachts muss sie nie Licht anmachen, wenn sie durch das Haus läuft. Und sie kann eine Wasserflasche füllen, ohne hinzusehen. In der Schule stellt sie die Flasche unter den Hahn, dreht sich um und redet mit ihren Freunden. Wenn die Flasche langsam voll wird, klingt sie anders, irgendwie milder, das Wasser fließt schneller.
Bevor Layla nach Hause kommt, schreibt sie ihrer Mutter eine Nachricht. Lydia Zoubek bekommt Frührente und ist deshalb häufig zu Hause, Laylas Vater arbeitet bei der Telekom. Er bringt meistens die Post von draußen mit. Den Absender kann er erkennen. Wenn er etwas liest, drückt er seine Nase gegen das Papier. Layla und Bilal decken den Tisch zusammen. Ihre Mutter setzt sich auf den Stuhl, auf dem Katze Mignon liegt, die springt vorher noch mit einem lauten Miau davon. „Huch, jetzt hätte ich mich fast auf die Katze gesetzt“, sagt Laylas Mutter, alle lachen. Im Hintergrund sagt der Computer laut und deutlich: „Bildschirmschoner“, dann verdunkelt sich der Bildschirm.
Für Layla ist das alles normal. Wenn sie jemanden kennenlernt, erzählt sie gar nichts davon. Doch in der Schule muss sie weiter seltsame Fragen ertragen. Sie hat Standardantworten: Nein, ich bin nicht die Haushaltshilfe, sagt sie dann. Ja, Mama kann kochen und Wäsche waschen. Nein, ich hatte als Kind keine Leine, um nicht wegzulaufen. Und ja, meine Eltern sind blind, wirklich blind. Sie versteht nicht, was andere daran so besonders finden.